Der Aufstieg und der Fall der Schüler

Vor langer, langer Zeit lebte ein großer Yogi. Dieser Yogi hatte Tausende von Schülern, betrachtete aber nur zwanzig davon als seine Erstklass-Schüler. Daneben besaß er Zweitklass-, Drittklass-, Viertklass-, Fünftklass-, Sechst­klass- und Siebtklass-Schüler. Doch leider blieben nicht einmal die Erstklass-Schüler immer erstklassige Schüler. An bestimmten Tagen fielen auch sie und wurden zu Zweitklass-, Drittklass- oder sogar zu Viertklass-Schülern.

Eines Tages kamen einige der früheren Erstklass-Schüler, die zu Viertklass-Schülern geworden waren zum Yogi und stellten ihm inbrünstig einige Fragen. Ihre erste Frage lautete: „Wie war es möglich, dass wir vom Gipfel wieder herunterfielen? Liegt der Fehler an uns oder sind wir dir einfach überdrüssig geworden, da es scheint, dass du neues Leben und neue Inspiration stets bevorzugst?“

Der Yogi antwortete: „Nein, ich bin eurer nicht überdrüssig. Wenn ihr mir verleidet gewesen wäret, hätte ich euch gebeten, meinen Ashram zu verlassen. Außerdem bevorzuge ich nicht das Neue. Ich bevorzuge das Ewige, das ständig neu ist.“

Dann fragten die gefallenen Schüler den Yogi: „Ist es wahr, dass in deinem Fall Vertrautheit Verachtung erzeugt? Ist es möglich, dass du uns nicht länger nett, inspirierend und ermutigend findest, da wir dir so lange sehr nahe gestanden haben?“

Der Yogi sagte: „Nein, das ist nicht wahr. In einem gewöhnlichen menschlichen Leben erzeugt Vertrautheit Verachtung. Im Falle eines spirituellen Meisters und seiner Schüler trägt der Meister seine Schüler durch Vertrautheit zur Höchsten Höhe. Der Meister hat das Gefühl, dass die auserwählten Schüler eines Tages durch Vertrautheit zu einem vollkommenen Teil seiner Verwirklichung und seiner Manifestation werden.“

Dann stellten die Schüler eine weitere Frage: „Ist es möglich, dass der Meister einem Schüler äußerlich zulächelt, innerlich jedoch kein Gefühl für ihn hat?“

Der Meister sagte: „Nein. Wenn der Meister lächelt, bedeutet das, dass er für den betreffenden Schüler immer noch Mitleid empfindet.“

„Ist es möglich“, fragten sie, „dass ein Sechstklass-Schüler ein Erstklass-Schüler wird?“

„Es ist gut möglich. Es ist wie bei einer Leiter oder einem Baum, wo wir hinaufklettern und herunterfallen können.“

Dann fragten die Schüler: „Wird dies immer so weitergehen? Nun sind wir von anderen Schülern wie weggewaschen worden. Werden diese Schüler eines Tages ebenfalls weggewaschen werden?“

Der Meister sagte: „Warum nicht? Wenn sie sich nicht richtig benehmen, wenn sie mich enttäuschen, wie ihr mich enttäuscht habt, dann werden sie natürlich ebenfalls weggewaschen werden. Ich gehe den ewigen Pfad entlang. Leute, die müde werden, verlassen mich auf dem Weg. Wir gehen eine Zeitlang zusammen und sobald sie müde werden, verlassen sie mich oder beginnen, die Leiter hinunter zu klettern. Dann kommen sie sehr langsam voran.“

„Was ist die Ursache für unseren Fall?“ fragten die Schüler.

„Unsicherheit, Eifersucht, Zweifel, Furcht und Selbstnachgiebigkeit“, antwortete der Yogi.

„Und was kann uns wieder zu unserer ursprünglichen Höhe zurückbringen?“ fragten sie. „Was kann uns die Fähigkeit verleihen, wieder mit schnellster Geschwindigkeit mit dir weiter zu reisen?“

Der Yogi antwortete: „Diese Fähigkeit erhaltet ihr durch ständige Dankbarkeit gegenüber dem Meister, dass er euch als seine Schüler angenommen hat und dass er euch erlaubt, seine Schüler zu bleiben. Auch wenn der Meister euch nichts gibt - nicht einmal einen Hauch von Frieden, Licht oder Glückseligkeit - selbst dann bedeutet nur schon seine Annahme von euch etwas Weites, Unendliches und Erfüllendes. Wenn ihr es auf diese Weise betrachten könnt, ist es euch möglich, auf eure ursprüngliche Höhe zurückzukehren.“

Dann stellten die Schüler eine weitere Frage: „Meister, du hattest einige sehr enge Schüler, die dich verlassen haben. Wie kann es sein, dass sie sich recht wohl zu fühlen scheinen? Solange sie bei dir waren, waren sie unglücklich, obwohl sie zu deinem engen Schülerkreis gehörten. Warum waren sie unglücklich?“

Der Meister antwortete: „Obwohl sie meine engen Schüler waren, hat die Eifersucht sie nie verlassen. Furcht, Zweifel, Unsicherheit, Kummer und Sorge verließen sie nicht. Deshalb waren sie unglücklich.“

„Warum hast du sie dann überhaupt zu Erstklass-Schülern gemacht?“ fragten die gefallenen Schüler.

Der Meister antwortete: „Es ist eine Frage des Maßes. Erstklass-Schüler sind unsicher, eifersüchtig, haben Angst und hegen Zweifel, doch viel weniger als andere Schüler. Trotz ihrer Unvollkommenheiten sind sie von ganzem Herzen und im Innersten bereit, meinem Pfad zu folgen, während andere, die dieselben Unvollkommenheiten haben, nicht völlig bereit sind, meinem Pfad zu folgen. Die Erstklass-Schüler sind sich ihrer Unvollkommenheiten völlig bewusst und wissen, dass sie diese Schwierigkeiten eines Tages transzendieren müssen. Doch die Schüler, die mich verlassen haben, wurden von ihren ungöttlichen Eigenschaften überwältigt; bevor sie genau diese Eigenschaften besiegen konnten.“

„Betrachtest du es als einen Fehlschlag, als einen völligen Misserfolg für dich, dass Leute dich nun verlassen haben, die von dir soviel Anteilnahme, Segnungen, Liebe und Aufmerksamkeit erhalten haben?“ fragten die Schüler weiter.

Der Meister sagte: „Wer hat wen verlassen? Wenn ihr sagt, dass sie mich verlassen haben, dann habt ihr auf der äußeren Ebene recht. Doch auf der spirituellen Ebene muss ich euch leider sagen, dass der Frieden sie verlassen hat, dass die göttliche Erfüllung sie verlassen hat. Was ihr als Glücklichsein bezeichnet oder was ihr als Glücklich­sein betrachtet, ist nur ein Schein; es ist nicht wirkliches Glück. Wenn ihre Seelen zum Vorschein kommen, fühlen sie in ihrem Herzen eine öde Wüste. Innerlich brechen sie jeden Augenblick in Tränen aus, weil sie fühlen, was sie gewesen sind und was sie jetzt sind; was sie gehabt haben und was sie jetzt haben. Zuvor versuchten sie die Rolle der Aufrichtigkeit zu spielen, doch nun spielen sie die Rolle der Selbsttäuschung.“

Dann stellten die Schüler eine letzte Frage: „Beeinträchtigen jene engen Schüler, die dich verlassen, deine Mission in irgendeiner Weise?“

Der Yogi sagte: „In sehr begrenztem Maße. Niemand kann die göttliche Manifestation eines spirituellen Meisters zerstören. Doch wenn einige enge Schüler eines Meisters die viele, viele Jahre bei ihm gewesen sind, ihn verlassen, dann verschieben sie seine Manifestation. Der Meister säte sie als kleine Samenkörner. Als die Saat dann aufging, wurde sie vom Meister genährt und gepflegt, bis die kleinen Pflänzchen zu einem Baum heranzuwachsen begannen, der andere ernähren und ihnen Schutz gewähren konnte. Wenn dann der Baum durch die Unwissenheit gefällt wird, bevor er völlig heranwachsen kann, ist das natürlich ein Verlust. Doch zum Glück besitzt der Meister die Fähigkeit, neue Samenkörner zu säen und es besteht die Hoffnung, dass diese neuen Samenkörner gut aufgehen und zu einem mächtigen Bhanjan-Baum heranwachsen werden.

Die göttliche Mission kann nie zerstört werde. Wenn die auserwählten Instrumente fehlschlagen, wenn sie den Meister enttäuschen, dann schiebt das den Sieg nur hinaus. Doch der letzte Sieg wird unweigerlich kommen, und wer weiß, vielleicht werden die neuen Instrumente der Welt als Ganzes mehr Schutz, mehr Frieden, mehr Liebe, mehr Trost und mehr Licht schenken, als die anderen es gekonnt hätten. Es gibt keine Niederlage, keinen Fehlschlag, nur zeitweilige Rückschläge. Der letzte Sieg wird unweigerlich dämmern.“

From:Sri Chinmoy,Aufstieg und Fall der Schüler, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/add