Zwei Fremdlinge: Geld und Licht

Es gab einmal einen großen spirituellen Meister, der insgesamt etwa zwanzig Schüler hatte. Entweder interessierte er sich nicht dafür, mehr Schüler zu haben oder Gott war ihm nicht gut genug gesinnt, um ihm mehr Schüler zu geben. Auf jeden Fall war er mit seinen zwanzig Schülern zutiefst zufrieden. Wie alle spirituellen Meister hatte er drei oder vier Schüler, die ihm sehr nahe standen und die sehr enge Schüler waren. Unter diesen engen Schülern war eine Schülerin, die Isabella hieß. Sie hatte einen spirituellen Bruder namens Quentin. In ihrer Einfachheit und Aufrichtigkeit fand sie diesen spirituellen Bruder sehr nett. Im Lichte und in der Weisheit ihrer Seele wäre es vielleicht anders gewesen. Ich werde euch ein anderes Mal eine Geschichte über Isabella erzählen. Heute möchte ich euch die Geschichte über ihren spirituellen Bruder Quentin erzählen, der in keiner Weise ein enger Schüler des Meisters war.

Quentin ging regelmäßig zum Ashram des Meisters. Er war immer unter den ersten die kamen. Der allererste war ein anderer guter Schüler, der mit Quentin nicht sehr gut auskam. Sein Name war Quincey. In jenen Tagen brauchte der Meister einige Schüler, die ihm halfen, sein Büro zu ordnen. Quentin half sehr gerne. Noch jetzt segnet der Meister seine Seele, wenn er seine Handschrift sieht. Quentin war der ärmste, absolut ärmste aller Schüler. Er lebte in Brooklyn und weil er kein Geld für die Untergrundbahn hatte, musst der arme Guru ihm das Geld dafür geben.

Manchmal hatte der Guru selbst nur sieben Dollar oder wenn er Glück hatte, fünfundzwanzig Dollar auf seinem Bankkonto, doch der Guru war eben ein Inder mit einem indischen Herzen und so gab er Quentin immer das Geld für den Bus.

Quentin kam auch stets mit schmutzigen, dreckigen Schuhen zum Ashram, obwohl seine Schuhe wahrscheinlich noch sauberer waren als seine Füße. Manchmal entdeckte der Meister Rattenlöcher in den Schuhen und gab ihm das Geld für neue Schuhe. Der Meister war auch strikt gegen lange Haare, und so gab der Meister ihm Geld für einen Haarschnitt, wenn sich Quentins Haare an den Ohren zu ringeln begannen. Und so ging es weiter. Quentin kannte die Armut des Meisters, doch seine eigene Armut war noch schlimmer.

Ab und zu, wenn der Meister in seiner humorvollen Stimmung war, fragte er Quentin, ob er Isabella kenne. Quentins Antwort war stets: „Nein, überhaupt nicht.“ „Hast du mit ihr über irgendetwas gesprochen?“ „Nein, nie!“ war die unveränderliche Antwort. Eines Tages, als die Meditation vorüber war und Isabella gegangen war, befand sich der Meister in seiner humorvollen Stimmung. Immer, wenn der Meister sah, dass seine Schüler in anderen Welten schwebten, wurde er ein wirkliches Äffchen. Der arme Quentin versuchte vom Meister wegzukommen, ohne verletzend zu sein, doch der Meister fuhr fort, mit ihm zu sprechen. Doch schließlich tat ihm Quentin leid und er ließ ihn gehen. Dann schaute der Meister aus seinem Fenster hinaus und sah wie Isabella bei grüner Ampel die Straße überquerte. Nachdem sie über die Straße gegangen war, schaltete die Ampel auf gelb und dann auf rot. Dann sah der Meister, wie Quentin bei roter Ampel über die Straße rannte, um Isabella einzuholen. Am selben Tag noch hatte der Meister Quentin gefragt, ob er Isabella kenne und er hatte von Ihm die Antwort erhalten: „Nein, ich weiß nicht, wer sie ist.“ Quentin war bestimmt nicht der aufrichtigste Schüler des Meisters.

Trotz all dem half der Meister Quentin finanziell weiter, da er der ärmste aller Schüler war. So konnte der Meister zumindest sagen, er sei reicher als einer seiner Schüler. Ungefähr eineinhalb Jahre ging Quentin so zum Ashram des Meisters. Eines Tages rief er den Meister an und sagte: „Meister, ich muss mit dir sprechen.“ In jenen Tagen hatte der Meister nur wenige Schüler und ein Telefonanruf war etwas seltenes. So sage er: „Ja, komm nur.“

Als Quentin die Türe öffnete, brach er in Tränen aus und fiel dem Meister zu Füßen. Der Meister sah den Grund dafür nicht ein und fragte: „Was ist los mit dir?“

„Nichts. Du musst mir vergeben, du musst mir vergeben“, lautete die tränenerfüllte Antwort.

Der Meister fragte: „Was hast du getan, dass ich dir vergeben muss?“

„Ich habe alles getan. Wenn du mir nicht vergibst, werde ich nicht einmal in der Hölle einen Platz bekommen.“

Der Meister beruhigte Quentin und sagte: „Sorge dich nicht, der Himmel kann dich sicher aufnehmen.“

Da nahm Quentin sein Sparbuch aus seiner Tasche und zeigte es dem Meister. Es wies ein Guthaben von sieben­tausendfünfhundert Dollars auf. Der Meister legte seine Hände vors Gesicht, als er sah, was sein Schüler gemacht hatte. „Was kann ich tun?“ fragte er sich selbst.

Als Antwort auf die Frage des Meisters sagte Quentin: „Ich habe dir Lügen erzählt. Bitte vergib mir und nimm all das.“

„Nachdem du mir eine solche Lüge erzählt hast? Unmöglich.“

„Dann werde ich deinen Ashram nicht verlassen. Erst wenn du dieses Geld nimmst, heißt dies, dass du und Gott mir vergeben haben.“

„Unmöglich!“ sagte der Meister.

Und so ging es weiter. Quentin schrie und bestand darauf, dass sein Meister das Geld nimmt und der Meister lehnte es ab. Quentin weinte, schrie und drohte an Selbstmord zu begehen, wenn der Meister sein Geld nicht annehmen würde. Er sagte dem Meister, er besäße weitere zweitausend Dollar auf einem Bankkonto, zusätzlich zu dem Geld auf seinem Sparbuch. Wenn der Meister also alles Geld von seinen Ersparnissen nehmen würde, dann könnte er immer noch seine Ausgaben über sein Bankkonto begleichen. Der Meister protestierte vehement, doch letztlich tat ihm Quentin leid und er war damit einverstanden, dass er an seinem Geburtstag, der in vier Monaten sein würde, tausend Dollar annehmen würde. Zum guten Schluss war Quentin mit diesen Kompromiss einverstanden.

So etwa drei Wochen später kamen dem Meister von anderen Schülern Gerüchte zu Ohr, dass er Quentin gesagt habe, er würde ihn aus seinem Ashram werfen, wenn Quentin ihm nicht siebentausendneunhundert Dollar geben würde. Einer, zwei, ja drei Schüler brachte dem Meister dieselbe Botschaft. Der Meister verteidigte sich und sagte: „Wie hätte ich überhaupt wissen können, dass er ein Sparbuch besitzt, wenn er es mir nicht gezeigt und mir das Geld angeboten hätte? Er tat es tatsächlich, doch ich wollte auch nicht einen Cent annehmen.“

Am Ende der nächsten Meditation sagte der Meister zu Quentin: „Ist es fair von dir zu sagen, ich hätte dir gedroht, dich aus dem Ashram zu werfen, wenn du mir nicht all deine Ersparnisse geben würdest? Wie viele Stunden habe ich dagegen protestiert, auch nur einen Cent von dir anzunehmen? Bleib bei mir, wenn du willst. Ich mag deine Seele, so kannst du bei mir bleiben. Doch ich werde nie Geld von dir annehmen.“

Einige Tage später hörte der Meister, dass Quentin nun den Leuten erzählte, der Meister habe ihm ein Ultimatum gestellt. Wenn Quentin dem Meister sein Erspartes nicht am Geburtstag des Meisters geben würde, würde der Meister ihn aus seinem Ashram werfen. An diesem Punkt wurde es dem Meister zuviel und beim nächsten Mal als Quentin in den Ashram kam - wie gewöhnlich früh - sagte der Meister zu ihm: “Verlasse meinen Ashram. Ich kann dich nicht länger ertragen.“

Während den eineinhalb Jahren, in denen Quentin in den Ashram des Meisters gekommen war, hatte er dem Meister zwei Geschenke gegeben: eine kleine Statue der Göttin Saraswati und ein Buch von Paramahamsa Yoga­nanda, „Whispers from Eternity“. Als der Meister ihn bat, nicht mehr in den Ashram zu kommen, sagte Quentin zum Meister: „Gib mir meine Statue zurück.“ Der Meister gab sie ihm sofort zurück. „Gib mir nun mein Buch zurück!“ sagte Quentin.

„Ich habe etwa siebzig oder achtzig Bücher hier auf dem Regal. Ich weiß gerade nicht, wo es ist. Ich werde es später finden und es dir schicken. Die Schüler kommen bald zum Meditieren, geh nun bitte und ich werde es dir schicken.“

Doch Quentin sagte: „Nein, ich werde nicht gehen. Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, bis du mir mein Buch zurückgegeben hast.“

So musste der Meister seine okkulte Kraft gebrauchen, um das Buch schnell zu finden. Er gab es Quentin und sagte: „Nun gehe.“

„Nein, ich rufe die Polizei an und sage, dass du mich hier raus wirfst, obwohl ich nichts Falsches getan habe. Ich werde dich gerichtlich verklagen.“

Darauf wurde der Meister wirklich wütend. Zum Glück kam gerade eines der stärksten Ashram-Mitglieder die Treppe herauf. Der Meister sagte zu ihm: „Gregory, ich habe Quentin gebeten zu gehen, doch er weigert sich zu gehen. Hilf ihm doch bitte die Treppe hinunter.“ Gregory zeigte seine Muskeln und Quentin hatte die Befürchtung, seine Stunden wären gezählt, wenn er Widerstand leisten würde und so verließ er den Ort in Frieden.

Einige Tage später gingen wieder Gerüchte über dieselbe alte Geschichte herum. Quentin erzählte den Schülern, dass der Meister ihn aus dem Ashram geworfen habe, weil er ihm nicht all seine Ersparnisse gegeben habe. Dann erhielt der Meister eines Tages einen Brief von Quentin, in dem er schrieb: „Ich habe ein Gewehr und meine Mutter sagt, ich sei verrückt. So kann ich alles mit meinem Leben und dem Leben anderer tun, ohne dafür verantwortlich zu sein. Ich will dir mitteilen, dass ich mein Gewehr für dich gebrauchen werde.“ Der Meister beantwortete diesen Brief nicht. Einige Tage später kam ein weiterer Brief von Quentin. Diesmal hatte sich die Geschichte geändert. Quentin sagte, er wäre bereit, sich sein eigenes Leben zu nehmen, wenn der Meister ihn nicht wieder annimmt.

Der Meister ging tief in sich und erhielt keine Antwort. Er ging noch tiefer in sich, um zu sehen, ob es der göttliche Wille sei, dass er Quentin wieder als Schüler annimmt. Während seiner Meditation sah der Meister, dass Quentin keinen Selbstmord begehen wird und dass er ihn nicht wieder annehmen kann. Danach fühlte sich der Meister inspiriert für seine anderen Schüler etwas über Geld zu schreiben und schrieb folgendes: „Geld wird traditionell als Wurzel des Übels betrachtet. Doch wenn Geld von Anfang an für einen göttlichen Zweck gebraucht wird, dann ist es kein Fluch. Wenn ihr Geld habt, euren Meister jedoch täuschen und ihn glauben machen wollt, dass ihr finanziell sehr leidet, dann wird eure Täuschung eines Tages aufgedeckt werden. Wenn ihr Geld habt, so macht das nichts. Ihr könnt Millionen von Dollars besitzen, wenn ihr wollt, und der Meister wird nie einen Cent von euch erwarten. Er wird euch nur das Beste wünschen, für euren materiellen Reichtum ebenso wie für euren spirituellen Reichtum. Wenn ihr jedoch dem Meister sagt, ihr hättet kein Geld und ihn um finanzielle Hilfe bittet, dann wird der Tag kommen, an dem euch euer innerer Führer - nicht der Meister - strafen wird. Ihr werdet schließlich gezwungen werden, aufrichtig zu sein. Wenn eure Aufrichtigkeit zu diesem Zeitpunkt tief und ernst ist, wird euch vergeben werden. Doch wenn eure Aufrichtigkeit von weltlichen Gedanken, Gier und weiterer Unaufrichtigkeit verdeckt ist, dann beginnt der Tod eures spirituellen Lebens. Wenn man Geld richtig gebraucht, ist Geld ein Segen. Geld jedoch, das auf ungöttliche Weise gebraucht oder bewusst vor dem Meister verdeckt wird, wird sich früher oder später als ein Fluch erweisen.“

Der Meister sah, dass Unaufrichtigkeit und Spiritualität nicht zusammen gehen können. Nie! Sobald Unaufrichtigkeit in einen Schüler eintritt, ist er verloren. Wenn ein Schüler Frieden im Verstand oder Liebe und Anteilnahme für andere besitzt, jedoch aus falscher Bescheidenheit sagt: „Ich habe keinen Frieden, ich habe keine Liebe, ich habe keine Freude“, dann ist diese falsche Bescheidenheit ein Fluch. Sie ist genauso schlimm wie Eifersucht, Furcht und Zweifel. Wirkliche Bescheidenheit wird von falscher Bescheidenheit missbraucht. Wenn der Meister einen Schüler lobt, so ist Bescheidenheit gut, doch man darf sie nicht zu weit treiben. In der Tiefe eures Herzens wisst ihr, dass alles wahr ist, was der Meister sagt, doch wenn er euch lobt, so habt ihr das Gefühl, ihm einen Gefallen zu tun, wenn ihr euch bescheiden zeigt, und ihr werdet eure falsche Bescheidenheit soweit führen, dass ihr euch weigert, das Lob des Meisters anzunehmen. Dies ist falsch. Man muss das Lob des Meisters mit tiefer und aufrichtiger Dankbarkeit annehmen.

Im spirituellen Leben müssen wir sehr vorsichtig sein, wie wir das verwenden, was wir haben - ganz gleich ob es nun spiritueller oder materieller Reichtum ist. Jede Art von Reichtum muss auf göttliche Weise gebraucht werden; sonst werden wir uns eines Tages alle wie Quentin benehmen. Wenn ihr etwas habt, wunderbar. Ihr steht unter keiner Verpflichtung, euren inneren und äußeren Reichtum anderen zu geben. Doch wenn ihr sagt, ihr hättet keinen Reichtum und andere, die viel weniger haben als ihr, bittet, euch etwas zu geben, dann tut ihr etwas sehr Schlechtes. Ihr habt kein Recht, andere auszunützen, indem ihr sie fühlen lasst, dass es ihnen viel besser geht als euch. Das ist nicht fair. Wenn ihr Geld habt, wenn ihr Frieden, Licht oder Freude habt, dann sagt nicht: „Ich habe nichts.“ Der Meister oder euer innerer Führer werden bald mit euch unzufrieden sein und euch auch die wenige Freude, die Liebe und den Frieden, die ihr bereits besitzt, wegnehmen. Gott hat uns allen einen gewissen inneren Reichtum gegeben, nämlich Strebsamkeit. Wenn Er uns dazu auch äußeren Reichtum gegeben hat, dann lasst uns unseren inneren Reichtum, der unendlich viel wertvoller ist, nicht dafür opfern, um unseren äußeren Reichtum geheim zu halten.

From:Sri Chinmoy,Aufstieg und Fall der Schüler, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/add