Dieser Meister besaß einen kleinen Ashram am Fuße des Himalayas. Dort lebten zehn oder zwölf Schüler. Einer von ihnen war sehr schön. Vielleicht war er der schönste junge Mann auf Erden. Seine Schönheit war überwältigend. Der Meister konnte es nicht ertragen, diese Schönheit brach liegen zu lassen und fragte sich oft, wie er sie verwenden könnte.
Eines Tages schoss eine brillante Idee durch den Kopf des Meisters. Er dachte, er könne alle aufrichtigen und unaufrichtigen Sucher des Landes hinters Licht führen und viel Geld verdienen. So verkündete der Meister, er hätte die Fähigkeit, Gott einem jeden zu zeigen, unabhängig davon, wieviele Jahre, Monate oder Tage sich der betreffende im Yoga geübt habe. Er behauptete, er könne jedem Gottes Gesicht zeigen - unter der Bedingung natürlich, dass der Sucher eine große Summe Geld bezahlen würde. Er setzte die Summe auf 100 Rupien fest.
Jeden Abend zeigte der Meister „Gott“ jenen Suchern, die die Gebühr bezahlen konnten. Er tat dies auf folgende Weise: Er ließ seinen schönen Schüler in schönster Aufmachung hinter einer Leinwand in einem dunklen Raum stehen. Dann sang der Meister einige Male „AUM“ sowie „Brahma, Vishnu, Shiva“. Anschließend zündete der Meister ein schwaches Licht an und der Schüler kam hinter der Leinwand zum Vorschein. Dort im flackernden Kerzenlicht, umgeben von Blumen und brennenden Räucherstäbchen, sah man in etwas sechs Meter Entfernung ein Wesen, das so schön war, dass man nicht daran zweifeln konnte, dass es die lebendige Anwesenheit Gottes sei. Die unvorstellbare Schönheit des jungen Mannes überzeugte alle. Diese Täuschungen setzten sich über viele Monate hinweg so fort und der Meister häufte ein großes Vermögen an. Jeden Tag kamen zwanzig bis dreißig Personen, um “Gott“ von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Von jedem Besucher zog der Meister persönlich 100 Rupien ein. Der Meister gab den Schülern, die ihm halfen alles zu arrangieren ein klein wenig Geld, um sie still zu halten. Die Schüler waren im Glauben, dass ihr Meister wisse, was er tue und das wusste er tatsächlich.„Der Meister weiß, was am besten ist“, sagten die Schüler immer. „Was kümmert es uns, wenn er die Leute täuscht? Sie sind alle Dummköpfe, wenn sie glauben, dass sie Gott sehen können, ohne ein spirituelles Leben zu praktizieren. Wir müssen unseren Glauben an unseren Meister aufrecht erhalten.“ Dies war ihre Schlussfolgerung.
Der Schüler, der sich als Gott hinstellte, erhielt natürlich etwas mehr Geld als die anderen Schüler. Die anderen Schüler halfen dem Meister, die richtige Atmosphäre aufzubauen, doch der schöne Schüler war natürlich unerlässlich.Nachdem auf diese Weise fast zwei Jahre vergangen waren, rührte sich beim falschen „Gott“ das Gewissen. „Wie lange soll ich die Welt noch täuschen?“ fragte er sich. „Ich mache überhaupt keinen spirituellen Fortschritt oder auch nur äußeren Fortschritt., ich mache nur meinen Meister reich. Da mein spirituelles Leben ein Fehlschlag ist, will ich vom Meister ein wenig Geld holen und dann von hier weggehen.“
Am nächsten Tag ging er zum Meister und sagte: „Ich möchte die Welt nicht weiter täuschen. Bitte gib mir etwas Geld und lass mich gehen.“
Der Meister sage: „Geld? Warum sollte ich dir Geld geben? Du willst meine kleinen Ersparnisse wegnehmen und mich hier verhungern lassen. Du undankbare Kreatur! Nach all dem, was ich für dich getan habe! Nach all dem Geld, das ich dir gegeben habe!“
Der Schüler antwortete: „Und woher kam dieses Geld? Es kam von mir, von meiner Schönheit.“
„Nein, meine okkulte Kraft ist es, die die Leute bringt und durch meine okkulte Kraft sehen die Menschen in dir die Anwesenheit Gottes. Es hängt alles von meiner okkulten Kraft ab.“
Der Schüler glaubte dies nicht. „Gut“, sagte er, „Wenn es deine okkulte Kraft ist, die die Leute Gott in mir sehen lässt, dann gebrauche diese okkulte Kraft, um sie Gott in jemand anderem sehen zu lassen. Unterdessen werde ich durch die Dörfer und Städte gehen und mich allen zeigen, und dann werden sie sehen, wie sie durch dich getäuscht worden sind.“
Der Meister sagte: „Nein! Du musst von hier weggehen. Du musst sehr weit von hier weggehen!“
„Ich werde gehen“, sagte der Schüler. „Wenn du mir eine große Summe Geld gibst, werde ich friedlich und ruhig gehen. Wenn nicht, werde ich dich entlarven.“
„Nein! Du musst sofort weggehen!“„Dann werde ich hier in der Gegend bleiben und den Leuten sagen, was du getan hast. Du bist ein Schwindler und ich war ein Dummkopf. Nun weiß ich es und ich werde es allen sagen. Wenn du mir nicht 2000 Rupien gibst, wirst du bald alles verlieren.“
„Drohe mir nicht“, sagte der Meister, „heute Nacht werde ich meine okkulte Kraft gebrauchen und veranlassen, dass du morgen früh meinen Ashram verlässt.“
Der Schüler lachte. „Gut, gebrauche deine okkulte Kraft. Wenn du mich nach drei Tagen nicht loswerden kannst, wirst du ruiniert sein.“
Der nächste Morgen kam und es geschah nichts. Der Meister konnte mit seiner okkulten Kraft nichts ausrichten. Widerstrebend sagte der Meister: „Ich bin bereit, dir 100 Rupien zu geben.“
„Nein“, sagte der Schüler. „Ich habe es mir besser überlegt. Du musst mir mindestens 4000 Rupien geben. Wenn du es nicht tust, werde ich die Welt über deinen Schwindel aufklären. Ich bin nicht Gott, Gott weiß, wie viele Inkarnationen ich noch brauchen werde, um Gott zu sehen, nun, da ich ein solcher Schuft geworden bin, indem ich mich zu dir gesellte. Ich habe meinen eigenen spirituellen Fortschritt verlangsamt, indem ich zu einem Schwindler wie dir kam.“
Der Meister wurde wieder wütend. „Nenne mich keinen Schwindler! Verlasse meinen Ashram! Verschwinde! Wenn du heute nicht gehst, werde ich heute Nacht meine gesamte okkulte Kraft gebrauchen, um dich zu zerstören.“
„Zerstöre mich“, sagte der Schüler unbeirrt.
Nichts geschah in dieser Nacht. Am folgenden Tag ging der Schüler zum Meister und sagte: „Meister, sei wenigstens einmal in deinem Leben aufrichtig. Du besitzt keine okkulte Kraft. Gib es zu. Gib zu, dass du nichts hast und dass du die Welt auf schlimmste Weise getäuscht hast. Gott wird dir vergeben. Davon bin ich überzeugt. Ich werde dir aber nicht vergeben. Ich habe meine Zeit vergeudet, indem ich sechs oder sieben Jahre bei dir geblieben bin. Gib mir nun bitte die 4000 Rupien und ich werde im Frieden weggehen, ohne irgendjemandem deinen Schwindel zu erzählen.“
Der Meister sage: „Ich kann machen, dass du diesen Ort sofort verlässt. Komm her, ich will dir etwas erzählen.“
„Du kannst mir nichts erzählen, das mich veranlassen würde, von hier wegzugehen. Wenn ich weggehen will, werde ich gehen, doch ich will zuerst das Geld von dir. Wenn du es mir nicht gibst, werde ich diesen Ort nicht verlassen.“
Doch der Meister bestand darauf. „Komm her, komm her, ich werde dir etwas sagen.“
Schließlich kam der Schüler und der Meister flüsterte ihm etwas ins Ohr.Der Schüler wurde bleich und begann zu zittern. „Unmenschlich! Meine Mutter! Undenkbar! Unerträglich! Wie falsch deine Zunge ist! Ich kann dich nicht mehr sehen. Behalte dein Geld, du Schuft, du, du Gauner. Ich kann alles in dieser Welt ertrage, doch wie kann ein Sohn so schlechte Dinge über seine Mutter von einem spirituellen Meister ertragen? Du kamst in die Welt mit einer unerträglichen Natur, mit einem unerträglichen Charakter, mit einem unerträglichen Leben, doch von all deinen unerdenklichen, unerträglichen, ungöttlichen Eigenschaften ist die schlimmste deine Zunge. Ich verlasse dich. Ich verlasse dich für immer. Deine okkulte Kraft konnte mich nicht zerstören, doch deine böse Zunge hat mich buchstäblich zerstört. Meine Mutter, die Seele der Schönheit, die Seele der Reinheit, die Seele der Liebe, die Seele des Mitgefühls - Mutter von allen, ich komme zu dir zurück, meine Mutter, mein All.“
Mit diesen Worten verließ der Schüler den Ashram des Meisters und wurde in der Nachbarschaft nie mehr gesehen. Doch der Meister wurde in der Nachbarschaft sehr bald gesehen, ja man sah ihn in ganz Indien, gekleidet in modischer Sportbekleidung und mit teurem Schmuck. Er fuhr in einer Luxus-Jacht an der indischen Küste entlang und flitzte in einem speziell hergestellten Sportwagen durch das Land. Das Geld, das der Meister nicht unmittelbar in seien materiellen Besitztümern verschwendete, investierte er in eine gut gehende Stahlfabrik. Und so lebte er komfortabel bis ins hohe Alter, unterstützt von der Unwissenheit von Tausenden von müßigen, faulen und neugierigen Suchern, die bereit waren, alles für ihre Gottverwirklichung zu tun, außer dafür zu arbeiten.From:Sri Chinmoy,Aufstieg und Fall der Schüler, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/add