4. AKT 1. SZENE

(Vidyasagars Haus in Kalkutta. Vidyasagar befindet sich in seinem Zimmer und widmet sich mit größter Aufmerksamkeit seinen Studien. Vaishnab Charan Pundit tritt ein. Beide verbeugen sich voreinander und tauschen Begrüßungen aus.)

PUNDIT: Ich bin bereits seit einigen Tagen hier in Kalkutta. Ich bedaure es sehr, dass ich nicht früher kommen konnte, um dir meine respektvolle Ehrerbietung zu erweisen.

VIDYASAGAR (lächelnd): Ich bin so froh, so stolz, dass du doch noch zu mir nach Hause gekommen bist. Läuft alles zufriedenstellend bei dir? Bitte nimm doch Platz.

PUNDIT (setzt sich hin): Alles ist bestens, durch Gottes Gnade. Wie steht es um deine Gesundheit, Vidyasagar?

VIDYASAGAR: Nicht gut. Mein Körper will nicht mehr so recht funktionieren. Ich bin alt. Ich bereite mich nun auf die andere Welt vor.

PUNDIT: Sage so etwas nicht, Vidyasagar. Bist du dir nicht bewusst, dass durch deine Abwesenheit abertausende Menschen vaterlos sein werden? Du solltest diese Gesundheit, diesen Körper mindestens einhundert Jahre erhalten.

VIDYASAGAR: Verfluche mich nicht, Bruder, verfluche mich nicht. Bereits jetzt geschehen Dinge in meiner Familie, die verkehrt laufen. Mein Sohn ist ungehorsam geworden. Er lässt unserer Familie in einem schlechtem Licht erscheinen. Ich weiß nicht, wie viel mehr Leid noch auf mich wartet.

PUNDIT: Undankbarkeit ist an der Tagesordnung. Die Bengalen sind zu einem bedauernswerten Objekt geworden, da sich Undankbarkeit in ihrem Leben breit gemacht hat. Erst vor einigen Tagen hatten wir eine besondere Zusammenkunft von Gelehrten, und auf diesem Treffen sagte der Gelehrte Panchanan, dass du die Hindu-Religion ruiniert hättest. Er behauptete, dass du mit Hilfe von einer Gruppe Jugendlicher das ganze Land zerstörst. Er sagte, es läge nichts Göttliches in deinen Handlungen, kein wahres Gefühl, beziehungsweise sei kein Selbstopfer in deinem selbstlosen Dienst für Bengalen. Er hat das Gefühl, dass das alles nur für Ruhm und Ehre geschieht. Es tut mir so leid, dass ich dir das erzählen muss. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gelitten habe und wie ich seit Tagen darunter leide, nachdem ich von all diesen Leuten, ausgerechnet von Panchanan gehört habe, wie er sich gegen dich wendet.

VIDYASAGAR: Es gibt nichts, was du bedauern solltest. Alles ist Gottes Spiel. Ich tue nichts, mein Freund. Gott ist es, der in mir und durch mich arbeitet. Ich bin einfach nur ein Instrument: Nimmita matram. Doch ich habe das Gefühl, dass dir ein Fehler unterlaufen ist. Ich nehme an, dass du etwas falsch verstanden hast.

(macht eine Pause)

Ich habe diesem Gelehrten niemals einen Dienst erwiesen. Wie kommt es dann, dass er schlecht über mich spricht? Ich bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass nur diejenigen, denen ich einmal auf irgendeine Weise behilflich war, mich kritisieren werden. Und dass jene, denen ich in keiner Weise behilflich war, mich niemals kritisieren. Und ich bin mir ganz und gar sicher, dass ich Panchanan in keiner Weise geholfen habe. Daher bin ich mir sicher, dass er über jemand anderen gesprochen haben muss.

(Hriday tritt ein.)

HRIDAY: O Weiser, mein Onkel mütterlicherseits betet und meditiert ohne Unterlass auf Gott. Dadurch, dass er ständig an das Göttliche denkt und im Gebet versunken ist, ist er verrückt geworden. Heute ist ihm danach, euch zu sehen, Vidyasagar.

PUNDIT: Dein Onkel? Der Thakur von Dakshineshwar?

HRIDAY: Ja, er wartet draußen.

PUNDIT: Draußen! Warum hast du ihn nicht herein gebracht? (Vaishnab Charan Pundit geht hinaus und bringt Ramakrishna herein. Anschließend spricht er zu Vidyasagar.) Heute ist Paramahansa, die große befreite Seele, die verwirklichte Seele, zu dir gekommen. Du kannst überaus stolz sein, dass er zu dir gekommen ist.

(Sri Ramakrishna verbeugt sich vor Vidyasagar. Vidyasagar verbeugt sich seinerseits und bietet Ramakrishna einen Sitzplatz an.)

SRI RAMAKRISHNA: Seit so langer Zeit habe ich in einem kleinen Teich gelebt. Heute bin ich zum Ozean gekommen.

VIDYASAGAR: Nachdem Ihr zum Ozean gekommen seid, so nehmt bitte mit etwas salzigem Wasser vorlieb. Das ist alles, was ich euch anbieten kann.

SRI RAMAKRISHNA: Vidyasagar, du tust das Richtige. Es ist gut, Liebe und Mitgefühl zu zeigen. Verhaftung hingegen ist etwas sehr Schlechtes. Wenn jemand nur die Mitglieder seiner eigenen Familie liebt, so ist das Verhaftung. Man muss Gott in allen Menschen sehen. Wenn jemand die Gegenwart Gottes in jedem Einzelnen sieht, bezeichnet man das als Mitgefühl. Ich bin hierher gekommen, da ich sehe, dass du Gott in allen Menschen dienst. Ich bin gekommen, um deine göttliche Weisheit zu bewundern. Oder denkst du etwa, dass dir Hörner gewachsen sind und das der Grund ist, weshalb ich hierher gekommen bin?

VIDYASAGAR: Heute ist mein Heim durch deine Füße geweiht worden. Heute ist mein Heim zu einem Ort der Wallfahrt geworden.

PUNDIT (zu Vidyasagar): Er verkörpert ganz und gar göttliche Liebe. Seine Verrücktheit ist die Trunkenheit göttlicher Liebe. Er tritt wie Sri Chaitanya in den großen Samadhi, die transzendentale Trance, ein.

VIDYASAGAR: Ja, ich weiß. Ich kann es sehen. Ich kann es fühlen. (zu Ramakrishna): Dieser Junge hier, dient er dir?

(indem er auf Hriday deutet.)

SRI RAMAKRISHNA: Frag ihn, ob er mir dient oder ob er mich kontrolliert. Ich habe fürchterliche Angst vor ihm.

HRIDAY: Onkel, das ist wirklich nicht nett von dir, so etwas zu sagen. War ich dir gegenüber jemals ungehorsam? Habe ich je versucht, über dich zu bestimmen? Hörst du jemals auf mich? Du schenkst der äußeren Welt keinerlei Aufmerksamkeit. Du achtest nicht auf das Wetter, du achtest nicht darauf, etwas zu essen. Daher passe ich auf dich auf. Ab und zu befehle ich dir freundlich, einige wenige Dinge zu tun, aber das ist nur um deiner Gesundheit willen. Bringe mich nicht ständig in die Lage, dass ich mich schämen muss, wenn wir in der Öffentlichkeit sind, sonst werde ich weg gehen. Ich muss dir nicht helfen, und wenn dir nichts an meinem Dienst liegt, werde ich nicht länger bei dir bleiben.

(Hriday ist im Begriff zu gehen)

SRI RAMAKRISHNA: O Hriday, geh nicht, geh nicht! Lass mich nicht alleine.

(zu Vidyasagar und Pundit)

Mein Neffe ist so nett. Er liebt mich Tag und Nacht. Wer hätte auf mich aufgepasst, wenn er nicht gewesen wäre? Ich vergesse sogar, meine Kleidung anzuziehen. Wenn er mich nicht kontrollieren würde, wie könnte er sein Gesicht dann in angesehener Gesellschaft sehen lassen? Ich würde ihm und meiner ganzen Familie Schande bringen.

(Hriday kommt zurück und setzt sich beschwichtigt nieder.)

Vidyasagar, ich möchte dir noch einmal sagen, dass du das Richtige tust. Du dienst Gott in der Menschheit. Du dienst Gott mit größter Liebe. Darum ist Gott mit dir zufrieden. Die Welt wird für immer das Gedenken an dein Lebens der Aufopferung bewahren.

(Ramakrishna steht auf. Vidyasagar und Pundit stehen auch auf und verbeugen sich vor Ramakrishna. Ramakrishna verbeugt sich vor ihnen. Ramakrishna und Hriday gehen weg.)

PUNDIT: Er ist wahrhaftig ein großer spiritueller Meister. Ich habe viel über ihn gehört, und innerlich kann ich fühlen, was er ist.

VIDYASAGAR: Auch ich fühle, was er ist. Er ist wahrlich groß. Er ist nicht nur der Stolz Bengalens und Indiens, sondern der Stolz der ganzen Welt. (Er macht eine Pause.) Arbeit, Arbeit, Arbeit! Ach, meine Tage sind gezählt. Und doch ist es mir bis jetzt noch nicht gelungen, Gott hingebungsvoll und seelenvoll zu dienen. Es ist mir nicht möglich, an meinen Inneren Führer zu denken, weil ich ständig daran denke, anderen Leuten zu helfen. Und die Leute sprechen nicht einmal gut über mich. Sie schätzen mich nicht einmal. Wenn ich meinen Inneren Führer nicht in mein Leben bringe, wird mein Dienst an der Menschheit nutzlos sein.

PUNDIT: Vidyasagar, du bist wahrhaft groß. Deine Aufrichtigkeit hat mich tief im Herzen berührt. Du erfüllst deine Aufgabe mit solcher Ergebenheit, höchst seelenvoll. Der Schöpfer in dir ist wirklich groß, doch leider bereitet der Kritiker in dir Probleme. Sei nicht der Kritiker, sondern sei ein Liebender der Menschheit. Du bist der Schöpfer, der Liebe in den Menschen erschafft. Du willst Vollkommenheit, und Vollkommenheit ist es, die Gott dir geben wird. Es wird dein ständiger Dienst sein, den du Ihm und der Menschheit widmest, der dir Vollkommenheit schenken wird. Du bist tätig. In deinen Aktivitäten wird die Selbst-Vervollkommnung dämmern. Selbstkritik wird dir niemals Vollkommenheit geben. Vidyasagar, ich erteile dir Ratschläge, aber eigentlich bist du es, der mir jede Sekunde meines Lebens Ratschläge geben sollte.

VIDYASAGAR: Nein, Gott spricht in und durch dich. Ich bin dir so dankbar, Pundit. Von nun an, jetzt, da ich Ramakrishna gesehen habe, werde ich meinem spirituellen Leben mehr Aufmerksamkeit schenken. Mein spirituelles Leben und mein Leben der Widmung an die Menschheit werden Hand in Hand gehen. Mein Leben der Verwirklichung und mein Leben der Widmung, welche die Manifestation der Liebe und des Lichtes auf Erden ist, werden von nun an Hand in Hand gehen.

PUNDIT: Vidyasagar, ein Mann wie du ist sehr selten zu finden. Bengalen ist gesegnet, weil es dich sein Eigen nennen kann. Mutter Erde ist gesegnet, weil sie dich ihren auserwählten Sohn nennen kann.

From:Sri Chinmoy,Trinkt, trinkt den Nektar meiner Mutter, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/dm