Nach dieser ersten Begegnung kam Parvati jeden Tag, um Lord Shiva zu sehen. Sie brachte ihm frische Blumen in der Hoffnung, dass er eines Tages seine Augen öffnen und zu ihr sprechen würde. Im Hinterkopf hatte sie die Idee, dass das der Mann war, den sie heiraten wollte.
Aus den Tagen wurden Jahre und Parvati wuchs zu einer wunderschönen jungen Frau heran. Noch immer war Shiva in seiner Trance versunken. Wie könnte jemand Shivas Trance stören? Wenn er einmal in Trance ist, genießt er die höchste und tiefste Glückseligkeit. Warum also sollte er diesen Zustand aufgeben?
Eines Tages vertraute Parvati ihrem Vater an: „Ich möchte Lord Shiva wirklich gerne heiraten. Er meditiert unablässig. Ich wünsche mir so sehr, dass ich auch so meditieren könnte wie er.“
Himavan war sehr traurig, dass Shiva seiner schönen Tochter, die in jeder Hinsicht tiefst spirituell war, überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkte. So beschloss er, Shiva einen Streich zu spielen: Er rief den Gott der Liebe an, um Lord Shivas Meditation mit seiner Hilfe zu stören. Der Name dieses bestimmten Gottes war Madana. Madana hatte einen Bogen und einige Pfeile, die aus Blumen gemacht waren. Er schoss diesen Pfeil auf seine Opfer und dann wurden sie von Gefühlen emotionaler Liebe erfüllt.
Auf Himavans Bitte richtete Madana seinen Pfeil auf Lord Shiva und die Pfeile fielen als Blumen zu Lord Shivas Füßen. Plötzlich öffnete Shiva sein drittes Auge und sah den Gott der Liebe mit seinem Bogen in der Hand vor ihm stehen. Sofort verbrannte Shiva diesen unglücklichen Gott zu Asche, weil er durch ihn in seiner Meditation gestört wurde.
Unterdessen stand Parvati mit einer wunderschönen Girlande in ihren Händen in der Nähe, aber Lord Shiva beachtete sie überhaupt nicht. Es war, als ob sie überhaupt nicht existierte. Er schloss einfach wieder seine Augen und verfiel in Trance.
Parvatis Eltern waren Zeugen dieser ganzen Geschichte und sie waren wütend auf Lord Shiva. Sie hatten das Gefühl, dass er ihre liebste Tochter beleidigt hatte. „Du kannst ihn nicht heiraten, Parvati“, sagten sie zu ihr. „Dieser Shiva hat dich schon so viele Jahre lang beleidigt. Du darfst deine Zeit nicht länger an ihn verschwenden.“
Aber Parvati wollte sich nicht von der Stelle rühren. „Ich bleibe hier“, erklärte sie. „Ab jetzt werde ich nur noch Blätter essen, nasse Blätter.“ Schweren Herzens kehrten Parvatis Eltern ohne sie nach Hause zurück.
Parvati blieb mehrere Jahre in Shivas Nähe und ernährte sich nur von nassen Blättern. Dann begann sie, nur noch trockene Blätter zu essen. Als sie nach einigen weiteren Jahren auch aufhörte Blätter zu essen, wurde ihr Name Aparna, was soviel wie ‚Eine, die nicht einmal ein Blatt isst’ bedeutet. Parvati wurde damals wegen ihrer extremen Tapasya (spirituellen Disziplin) zur Göttin Aparna.
Als die Zeit verstrich, ging Parvati noch einen Schritt weiter. Sie hörte auf, Wasser zu trinken. Sie lebte nur noch von Luft. Himavan sah, dass seine Tochter sehr schwach wurde. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie starb. Deshalb ging Himavan zu Lord Shiva und sagte: „Kannst du nicht sehen, was du meiner Tochter antust? Ihr ganzes Leben lang wollte sie nur eines, nämlich dich heiraten. Aber du hast sie nicht einmal angesehen. Wenn du entschlossen bist, sie nicht zu heiraten, schaue sie wenigstens an. Sonst wird sie sicherlich sterben.“
Shiva ließ sich dazu herab, Parvati anzusehen, aber er sagte zu sich selbst: „Ich möchte sie ein letztes Mal prüfen, bevor ich sie heirate.“ Arme Parvati, sie hatte so vielen Prüfungen standgehalten und noch immer wollte Shiva ihre Liebe und Ergebenheit prüfen. Er nahm die Gestalt eines gewöhnlichen Mannes an und erschien vor ihr. „Du bist ein wunderschönes Mädchen“, sagte er. „Warum verschwendest du hier deine Zeit? Ich habe gehört, dass du Shiva heiraten möchtest, doch was für eine Art Mensch ist er? Er verbringt seine ganze Zeit auf dem Leichen-Verbrennungsplatz zusammen mit seinen Geister-Freunden. Die Kette um seinen Hals ist aus Totenköpfen gemacht. Wie kannst du jemanden so Furchterregendes wie Shiva heiraten? Vergiss ihn! Heirate einen ganz normalen Mann wie mich.“
Parvatis Augen funkelten. „Was du sagst stimmt nicht. Geh weg von hier und lasse mich in Ruhe! Ich weiß, wer Shiva ist. Versuch nicht, deine Zweifel und Verdächtigungen in mich zu werfen. Dich werde ich niemals heiraten, niemals! Ich werde nur meinen Lord Shiva heiraten. Wenn du mich nicht sofort in Ruhe lässt, werde ich dich verfluchen.“
In diesem Augenblick nahm Shiva wieder seine wahre Form an. Parvati war tief bewegt und überwältigt, Shiva vor sich stehen zu sehen. Shiva sagte zu ihr: „Alles, was du willst, werde ich dir gewähren.“
„Weißt du zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht, welchen Wunsch ich habe?“ fragte Parvati. „Alles was ich mir wünsche ist dich zu heiraten.“
„Der Wunsch ist dir gewährt“, sagte Shiva.
Nachdem Shiva und Parvati verheiratet waren, erfuhr Parvati, dass sie in ihrer vorhergehenden Inkarnation auch Shivas Frau gewesen war. Damals war ihr Name Sati und sie opferte sich selbst, weil ihr Vater Daksha Shiva beleidigt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte!From:Sri Chinmoy,Die Erd-Erleuchtungs-Trompeten der göttlichen Heimat, Teil 1, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/eit_1