Vishnus Zwergeninkarnation

Diese Geschichte handelt von Prahalladas Enkel, König Bali. Bali war ein äußerst mächtiger König, der zugleich auch beliebt sein wollte. Wenn wir mächtig werden, wird man uns nicht würdigen, bewundern und verehren. Es verhält sich wie mit einer Nation, die eine Supermacht ist. Wir mögen uns ihr unterordnen, aber mit Hass anstelle von Liebe.

Bali war entschlossen einen Weg zu finden, um beliebt zu werden. Er kam zu dem Schluss, dass er von jedem geliebt, bewundert und verehrt werden würde, wenn er ein bestimmtes Opfer darbringen würde, welches ‚yajna’ genannt wird. ‚Yajna’ wird nur von großen Königen vollzogen.

Sobald die kosmischen Götter von Balis Absicht hörten, wurden sie sehr eifersüchtig. Sie glaubten, dass man Bali anbeten würde, sobald er sein Opfer vollendet hätte und den kosmischen Göttern keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt würde. Sie baten Vishnu um Hilfe: „Bitte, bitte unternimm etwas“, baten sie. „Bali ist so mächtig auf der Erde! Bald wird die ganze Welt ihn würdigen, bewundern und verehren und unser Ruhm wird schwinden.“

Vishnu tröstete sie: „Seid unbesorgt“, sagte er. „Ich werde mich um Bali kümmern.“

König Bali begann unter der Leitung seines Gurus Shukracharya die Opferzeremonie. Viele Menschen strömten herbei, um die Feier zu beobachten und daran teilzuhaben. Bali beschloss, dass es Teil des Opferritus sein sollte, dass er jedem, der ihn darum bat, einen bestimmten Gefallen erweisen würde. Er würde der Person sofort das geben, was sie wollte.

Plötzlich gesellte sich ein Zwerg zur Versammlung und begann aus den Veden, den Upanishaden und anderen heiligen Schriften zu rezitieren. Bali war überglücklich, eine so winzige Person zu sehen und er bewunderte den Vortrag des Zwerges. Er fragte den Zwerg: „Gibt es etwas, das du von mir möchtest?“

„Ja, da gibt es etwas“, sagte der Zwerg. In dem Augenblick flüsterte Shukracharaya Bali zu: „O mein Gott, ich kann fühlen, dass das kein Zwerg ist! Es ist Vishnu, der mit schändlichen Beweggründen hierhergekommen ist. Ich flehe dich an, erfülle seinen Wunsch nicht! Worum auch immer er dich bittet, du musst es zurückweisen. Als dein Lehrer sage ich dir, gewähre ihm seinen Wunsch nicht.“

„Nein, nein,“ wandte Bali ein. „Ich habe ein Versprechen gegeben und ich muss es halten.“

„Ich bin dein Lehrer“, sagte Shukracharya. „In diesem Fall musst du auf mich hören.“

„Du magst mein Guru sein, aber ich habe ein Versprechen gegeben und ich stelle mein Versprechen über alles“, sagte Bali. Hier sehen wir, wie ungehorsam Bali war! Anstatt sich seinem Guru unterzuordnen, hat er sich an sein Versprechen gebunden.

Shukracharya liebte seinen Schüler und war entschlossen, ihn zu retten.

Shukracharya besaß ein großes Herz und zudem unendliche Weisheit. Er sagte zu Bali: „Bevor du etwas gibst, musst du eine kleine Zeremonie abhalten. Zumindest in diesem Fall musst du auf mich hören. Was immer du ihm geben willst, kannst du geben. Ich weiß nicht, worum er dich bitten wird. Aber bevor du seinen Wunsch gewährst, musst du einige Tropfen Wasser auf die Füße des Zwerges spritzen. Nur dann wird alles gereinigt sein.“

Die Weisen bewahrten gewöhnlich ihr heiliges Ganges-Wasser in einem irdenen Krug, ‚Kamandalu’ genannt. Shukracharya stieg okkult in den Kamandalu hinein, den Balis Frau gebracht hatte und verschloss mit seinem Körper die Öffnung. Er glaubte, wenn er den Wasserfluss stoppt, könne die Reinigungszeremonie nicht stattfinden und Bali wäre nicht in der Lage, den Wunsch des Zwerges zu erfüllen.

Bali wusste nicht, dass sein Guru in dem irdenen Krug war. Als Bali zu Füßen des Zwerges saß und versuchte das Wasser auszugießen, entdeckte er, dass das Mundstück des Kruges verschlossen war. „O mein Gott“, sagte er. „Was mache ich jetzt?“

Bali hielt Ausschau nach einem Gegenstand, mit dem er die Öffnung durchbohren konnte. Ihr werdet vielleicht denken, dass sich ein Messer dazu am besten geeignet hätte. Aber stattdessen nahm er nur einen Strohhalm! Er stocherte mit dem Strohhalm in die verschlossene Öffnung. Unglücklicher­weise durchbohrte der Strohhalm ein Auge seines Gurus und ließ diesen auf einem Auge erblinden. Natürlich wusste Bali nicht, dass es das Auge seines Gurus war, in das er hineinstach. Doch als Shukra­charya aus dem Krug zum Vorschein kam und sein linkes Auge hielt, fühlte sich Bali ausgesprochen elend.

Er sagte zu dem Zwerg: „Ich bin dafür verantwortlich, dass mein eigener Guru auf einem Auge erblindet ist, nur weil ich mein Versprechen halten wollte. Ich bin tief betrübt, aber ich möchte dir dennoch deinen Wunsch erfüllen. Das Wasser kann jetzt ungehindert aus dem Krug fließen. Ich werde etwas Wasser auf deine Füße sprenkeln und dann kannst du mich um alles bitten, was du möchtest.“

Nachdem Bali die Zeremonie eingehalten hatte, fragte er den Zwerg nach seinem Wunsch.

„Du siehst, wie winzig ich bin. Gewähre mir bitte soviel Grund, wie ich mit drei Schritten durchmessen kann“, sagte der Zwerg.

Bali lachte über den Wunsch des Zwerges. „Du bist so klein! Welche Strecke kannst du mit nur drei Schritten zurücklegen? Gut, ich erfülle dir deine Bitte. Mache deine drei Schritte in irgendeine Richtung, die du möchtest.“

Als er Balis Worte hörte, nahm der Zwerg, der Gott Vishnu selbst war, seine universale Form an. Mit einem Schritt durchmaß er die ganze Welt; er tat einen zweiten Schritt und durchschritt ‚Brahmaloka’ oder die himmlische Welt. Er tat einen dritten Schritt und nun gibt es zwei unterschiedliche Versionen von der Geschichte.

Die eine Version besagt, dass es drei Welten gibt: die hiesige Welt, die höhere Welt und die niedere Welt. In Sanskrit heißen diese Welten: ‚bhulok’, ‚bhuvarloka’ und ‚svarloka’. Nachdem Gott Vishnu die hiesige und die höhere Welt überschritten hatte, sagte er zu Bali: „Nun sage mir bitte, wohin ich meinen Fuß setzen soll? Ich kann noch einen Schritt tun.“

Bali antwortete: „Es ist kein Platz für deinen dritten Schritt, setze also bitte deinen Fuß auf meinen Rücken.“ Gott Vishnu setzte seinen Fuß auf Balis Rücken und Bali wurde auf der Stelle vernichtet.

Eine andere Version der Geschichte besagt, dass Vishnu, nachdem er die drei Welten durchschritten hatte, sah, dass der arme Bali keinen Platz mehr zum Stehen hatte. Bali, der auf der Erde allmächtig gewesen war, hatte nun gar nichts. Vishnu sagte zu ihm: „Von Geburt bist du ein Dämon. Dein eigentliches Zuhause ist die niedere Welt. Ich möchte, dass du zur niederen Welt zurückkehrst, so dass Indra und die anderen kosmischen Götter sich in ihrem eigentlichen Königreich im Himmel erfreuen können. Du hast all deinen Besitz und jegliche Macht verloren. Nun gibt es für dich hier auf Erden keinen Platz mehr.“

Bali war überglücklich. Er sagte: „Mein Herr, du hast mich mit deiner unendlichen Gnade gesegnet, indem du mir erlaubt hast, deine himmlische Form zu sehen. Ich war von Macht und Besitz geblendet. Aber nun freue ich mich sehr, dass du mich wieder in meine wahre Heimat - die Unterwelt - zurückschickst. Ich werde in jener Welt glücklich sein und die kosmischen Götter, besonders Indra, werden wieder in der höheren Welt glücklich sein. Ich weiß nicht, wie ich dir für deine Freundlichkeit mir gegenüber danken kann.“ Das ist die Geschichte von Gott Vishnus Inkarnation als Zwerg, der ‚Vamana’ genannt wurde. Für mich ist der schmerzlichste Teil der Geschichte der, als Bali das Auge seines Gurus durchbohrte, während er versuchte, Wasser aus dem Krug zu erhalten. Deswegen ist Shukra­charya dafür bekannt, auf einem Auge blind zu sein. Zu dieser Tragödie kam es nur deshalb, weil Bali seinem Meister gegenüber ungehorsam war. Wenn es einen Konflikt zwischen Meister und Schüler gibt, dann stößt sehr oft dem Körper des Meisters etwas zu.

From:Sri Chinmoy,Die Erd-Erleuchtungs-Trompeten der göttlichen Heimat, Teil 2, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/eit_2