Ganesha umrundet das Universum

Shiva und Parvati hatten zwei Söhne namens Ganesha und Kartikeya. Im Laufe der Zeit verspürten beide den heftigen Wunsch zu heiraten. Sie baten ihre Eltern: „Bitte, bitte, findet für uns geeignete Frauen. Ihr sollt die Wahl treffen. Wir wollen unbedingt heiraten. Wir fühlen, dass unser Leben wertlos ist, solange wir nicht glücklich verheiratet sind.“

Shiva und Parvati waren überglücklich, die Bitte ihrer Söhne erfüllen zu dürfen. „Wir werden für euch beide wunderschöne Frauen finden“, versprachen sie.

Leider hatten Ganesha und Kartikeya einen heftigen Streit. Jeder von ihnen wollte zuerst heiraten. Ganesha wollte vor Kartikeya heiraten, weil er der Ältere von beiden war und Kartikeya wollte vor Ganesha heiraten, weil er dachte, dass der Jüngere die erste Chance bekommen sollte.

Nun hatten Shiva und Parvati ein ernsthaftes Problem. Sie konnten sich nicht entscheiden, wem sie den Vorzug geben sollten. Schließlich sagte Shiva: „Lasst uns Folgendes tun: Wer das Ende der Welt bereisen kann und als Erster zurückkommt, wird zuerst heiraten.“

Kartikeya brach sofort auf. Sein Fortbewegungsmittel war ein Pfau. Drei Jahre vergingen, ohne dass er das Ende der Welt erreicht hatte.

Währenddessen blieb der dickbäuchige Ganesha zuhause und ließ es sich gut gehen. Er wusste, dass er nicht darauf hoffen konnte, mit seinem athletischen Bruder Schritt zu halten.

Als Shiva sah, dass Ganesha sich noch nicht einmal auf den Weg gemacht hatte, sagte er zu seinem Sohn: „Was tust du? Du hast die Reise noch nicht einmal begonnen! Jeden Tag, jeden Augenblick kann Kartikeya zurückkommen. Was ist los mit dir?“

Genesha rührte sich nicht und Shiva fuhr fort: „Ich weiß, was du denkst. Solange du heiraten kannst, ist es genug. Es kümmert dich nicht länger, wer der Erste und wer der Letzte ist. Deswegen bist du nicht in Eile. Du hast deine Niederlage hingenommen.“

Ganesha lächelte seinen Vater einfach an und fuhr mit seinem gewöhnlichen Tagesablauf fort. Eines Tages kam ihm ein Gedanke: „Ich bin sicher, dass mein Bruder bereits die weiteste Strecke um die Erde zurückgelegt hat und nun auf dem Weg nach Hause ist. Nun ist es für mich an der Zeit zu handeln.“

Er ging zum Fluss baden und dann lief er um seine Mutter Parvati herum. Nachdem er einmal um sie herumgelaufen war, badete er noch einmal und umkreiste seine Mutter abermals. Siebenmal badete er und siebenmal umkreiste er seine Mutter.

„Was tust du, mein Sohn?“ fragte Parvati.

„Hast du unsere heiligen Schriften nicht gelesen?“ antwortete Ganesha „Die Shastras sagen, dass du die Göttliche Mutter bist; du bist die ganze Welt, das ganze Universum. Ich habe dich nicht nur einmal, sondern siebenmal umrundet. Das heißt, ich bin siebenmal um die Welt gegangen. Bin ich also nicht berechtigt, zuerst zu heiraten?“

„Was ist das für eine Logik?“, wandte Shiva ein. Ganesha argumentierte: „Wenn du meine Mutter nicht als die Göttliche Mutter ansiehst, wenn du nicht an die Veden glaubst, warum sagst du dann, man solle die Veden ehren? Du sagst immer, die Veden seien absolut vollkommen. Wie willst du dich nun rechtfertigen?“

Shiva erkannte, dass sein Sohn recht hatte. Parvati war das ganze Universum. Um zu zeigen, dass sie Ganeshas Tat guthießen, fanden Shiva und Parvati nicht nur eine, sondern gleich zwei wunderschöne Frauen für ihn. Ganesha nannte seine Söhne Labha und Laksha. Er war sehr stolz auf seine Familie und sie führten ein sehr glückliches Leben.

Die Großeltern Shiva und Parvati waren ebenfalls sehr zufrieden mit ihren neuen Enkeln. Aber zuweilen waren sie etwas traurig, wenn sie an den armen Kartikeya dachten. Er war schon viele Jahre weg und sie wussten nicht, wann er zurückkommen würde.

Als Kartikeya sich der Heimat näherte, sah er den Weisen Narada. Er sagte zu Narada: „Wie geht es euch? Erzähle mir einige Neuigkeiten.“

„Wie es uns geht?“, wiederholte Narada. „Wieso kommst du so spät?“

„Was meinst du?“, fragte Kartikeya. „Ist Ganesha schon heimgekehrt?“

„Ja“, sagte Narada. „Er ist verheiratet, er hat zwei Frauen und jede von ihnen hat ihm einen Sohn geschenkt. Wie konntest du zulassen, dass er dich besiegt?“

Als er Naradas Neuigkeiten hörte, wurde Kartikeya wütend. Er akzeptierte Ganeshas Auslegung der Shastras ganz und gar nicht. Bei seiner Rückkehr sah er mit seinen eigenen Augen, dass Ganesha mit seinen Frauen und Söhnen äußerst glücklich war.

Shiva und Parvati taten ihr Bestes, um Kartikeya zu trösten. Sie versprachen, für ihn eine wunderschöne Frau zu finden. Aber Kartikeya kochte vor Wut. Er sagte: „Nein, ich lege einen Eid ab. Da ihr mich alle zum Narren gehalten habt, werde ich in diesem Leben überhaupt nicht heiraten.“

Von nun an war Kartikeya bekannt als Kumara, was bedeutet: einer, der unverheiratet ist.

Nachdem er seinen Eid abgelegt hatte, verließ er sein Elternhaus, um alleine zu leben. Er wollte nicht länger bei seiner Familie bleiben, weil er fühlte, dass sie ihn alle betrogen hatten.

Kumara weigerte sich zurückzukehren, geschweige denn, seine Eltern zu besuchen.

Sie vermissten ihn sehr und fragten ihn daher, ob sie ihn besuchen dürften. Er willigte ein, dass Shiva ihn bei Neumond, wenn die Nacht am dunkelsten ist, besuchen konnte und Parvati ihn bei Vollmond, wenn der Mond am vollsten war. Er empfand solche Abscheu für seine Familie, dass er ihr einen Besuch nur zu jenen Gelegenheiten erlaubte.

From:Sri Chinmoy,Die Erd-Erleuchtungs-Trompeten der göttlichen Heimat, Teil 2, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/eit_2