Wie Shiva den Namen „Rudra“ bekam

Einmal sprachen und sprachen und sprachen Brahma und Vishnu endlos. Sie sind in allem endlos! Wenn sie schweigsam sind, sprechen sie Tausende von Jahren kein Wort; wenn sie jedoch anfangen sich zu unterhalten, können sie Tausende von Jahre ununterbrochen erzählen.

Bei dieser Gelegenheit, sie erfreuten sich gerade an einem ihrer geburtlosen und todlosen Gespräche, erschien Shiva ganz unerwartet. Aus irgendeinem Grund wurde Shiva manchmal sehr grob. Zu jener Zeit legte Shiva bei bestimmten Anlässen raue Manieren an den Tag. An diesem Tag war alles an ihm ungehobelt. Shiva hat nicht die feine Art der anderen Götter. Um seinen Nacken trägt er eine Kette aus Schädeln, er ist geschmückt mit Schlangen; seine Freunde sind die Geister und sein Lieblingsplatz ist der Verbren­nungsplatz für die Toten. Shivas Benehmen ist auch nicht unbedingt kultiviert. Man kann sagen, dass er nicht umgänglich ist.

In dieser unschicklichen Erscheinung kam er zu Brahma und Vishnu. Vishnu erkannte Shiva, aber Brahma erkannte ihn nicht. Schließlich wurde Brahma wütend über den Eindringling. „Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen und dich vor uns zu stellen!“ rief er aus. „Wir sind zwei kosmische Götter! Du hast keinen Respekt vor uns!“

„Erkennst du Lord Shiva nicht?“ fragte Vishnu.

„Das ist nicht Shiva!“ beharrte Brahma.

In diesem Augenblick öffnete Vishnu Brahmas drittes Auge. „O mein Gott“, sagte Brahma. „das ist Shiva!“ Er sagte zu Shiva: „Bitte verzeih mir, verzeih mir!“

„Schon gut, ich verzeihe dir“, willigte Shiva ein. Zu­nächst war Shiva wütend gewesen, als Brahma ihn beleidigte. Shiva wollte sein drittes Auge öffnen und Brahma auf der Stelle vernichten. Aber sobald Brahma um Vergebung bat, brachte Shiva seinen Mitgefühls-Aspekt zum Vorschein. Er vergab Brahma bedingungslos.

Noch war Brahma nicht ganz zufrieden. Er sagte zu Shiva: „Du musst beweisen, dass du mir vergeben hast.“

„Welchen Beweis möchtest du?“ fragte Shiva.

„Du musst dich in meiner Familie inkarnieren“, erklärte Brahma. „Du musst als mein Sohn geboren werden.“

„Gut, gut“, sagte Shiva. „Ich werde mich in deiner Familie inkarnieren. Ich werde dein Sohn sein.“

Nachdem es entschieden war, dass Shiva auf der Erde als Brahmas Sohn geboren werden würde, verließ Shiva die Gesellschaft von Vishnu und Brahma.

Da Vishnu und Brahma so lange Zeit geredet hatten, waren nun beide völlig erschöpft. Vishnu sagte: „Ich will eine kleine Pause einlegen.“ Auch Brahma sagte: „Ich will ebenfalls eine Pause einlegen, eine kurze Pause.“

Sobald sich Vishnu niedergelegt hatte, schlief er ein und begann zu schnarchen. Er war in einer vollkommen anderen Welt. Brahma legte sich in Vishnus Nähe nieder. Sie lagen sozusagen Seite an Seite. Brahma war noch teilweise wach. In dem Augenblick, als Vishnu einschlief, geschah etwas Merkwürdiges. Aus einem seiner Ohren tauchte ein winziges Wesen auf und dieses Wesen wollte Honig essen.

Einige Minuten später wachte Vishnu auf. Mittlerweile kam aus seinem anderen Ohr ein weiteres Wesen hervor. Dieses andere Wesen war wie ein Insekt. Es liegt in der Natur eines Insekts zu stechen, und so wollte es Brahma stechen. Diese zwei winzigen Wesen waren schlechte Kräfte oder Dämonen. Ihre Namen waren Madhu und Koitava. Madhu bedeutet Honig und Koitava kommt von dem Wort Drachen und bedeutet Insekt. Unsere indische Mythologie ist übersät mit diesen zwei Worten.

Madhu und Koitava sahen alle beide, dass Brahma die Person war, die ihnen am nächsten war und so machten sich beide daran, ihn zu töten. Sie waren das inkarnierte Böse. Obwohl einer wie ein Insekt und der andere auch sehr klein war, können Dämonen jede Form annehmen, die sie wünschen. Madhu und Koitava wurden also plötzlich riesig und stark. Sie sahen äußerst hässlich aus und waren unfassbar dick.

Nachdem sie diese riesige und schreckliche Gestalt angenommen hatten, begannen sie den schutzlosen Brahma anzugreifen. Er schrie laut: „Was macht ihr?“ Er kämpfte, aber er konnte sie nicht töten, doch auch den Dämonen gelang es nicht, ihn zu töten. Dann kam Vishnu dazu. Er wurde wütend.

„Ihr zwei seid aus meinem Körper hervorgekommen, und das ist nun die Art und Weise, wie ihr euch benehmt?“ donnerte er. Daraufhin tötete er die beiden Dämonen.

Brahma war hocherfreut, als er Madhu und Koitava tot am Boden liegen sah. Er begann zu meditieren. Plötzlich sagte er: „Shiva versprach, dass er sich in meiner Familie inkarnieren würde. Er sagte, er würde mein Sohn werden. Schau dir seine Lügen an! Shiva hält sein Versprechen nie – nie, nie, nie!“ Brahma dachte einen Moment nach und fuhr fort: „Ich muss zu Shiva beten und ihn noch einmal an sein Versprechen erinnern. Er versprach, dass er als mein Sohn zu mir kommen würde.“

Brahma betete also fünftausend Jahre lang zu Shiva, aber Shiva zeigte sich nicht. Eines Tages begann Brahma bittere Tränen zu vergießen, da Shiva sein Versprechen nicht gehalten hatte. Brahma sagte: „Ich will nicht vergeblich weitermachen. Auch nachdem er meine Tränen gesehen hat, ist Shiva nicht gekommen. Ich weine wie ein Kind, aber er erhört meine Gebete nicht. Ich habe mich nun entschieden, Selbstmord zu begehen. Shiva ist ein Lügner. Er wird nicht kommen. Also ist es das Beste, mich selbst zu opfern.“

Nach diesen Worten beging Brahma Selbstmord. Sobald er es getan hatte, trat Shiva aus Brahmas Mund. Während er herauskam, weinte Shiva bitterlich und Brahma wurde wiederbelebt. Brahma war überglücklich, seinen Sohn zu sehen. Als er Shivas Tränen sah, war er sehr besorgt.

„Warum weinst du, mein Kind?“ fragte er.

Shiva sagte, dass er weine, weil er in die Welt der Unwissenheit eintrete, während er eine menschliche Inkarnation annahm. Aus diesem Grund gab ihm Brahma den Namen ‚Rudra’, was bedeutet: ‚einer, der herzzerreißend weint.’ Es gibt auch einen anderen Aspekt dieses Namens, welcher bedeutet: ‚der, welcher zerstört.’ Im Laufe der Zeit manifestierte Shiva auch diesen anderen Aspekt, indem er die Kraft des dritten Auges gebrauchte.

Das ist also die Geschichte, wie Shiva zu dem Namen Rudra kam.

From:Sri Chinmoy,Die Erd-Erleuchtungs-Trompeten der göttlichen Heimat, Teil 1, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/eit_1