Aufrichtigkeit bestimmt das Ziel

„Meister, stehen meine Ziele immer an derselben Stelle?“

„Was meinst du damit, meine Tochter?“

„Meister, manchmal denke ich, dass meine Ziele näher zu mir heranrücken und manchmal denke ich, dass sie sich von mir entfernen. Doch bewegen sie sich jemals wirklich?“

„Meine spirituelle Tochter, jedes Ziel ruft danach, zu uns zu kommen, wenn wir aufrichtig sind, wenn wir hingebungsvoll sind, wenn wir sehr spirituell sind. Es gibt drei Ziele, die von Bedeutung sind. Das erste Ziel ist die Gott-Verwirklichung, die für dich noch in weiter Ferne liegt. Als nächstes kommt die Gott-Enthüllung. Dieses zweite Ziel liegt im Augenblick außerhalb deiner Vorstellungskraft. Das dritte Ziel ist die Gott-Manifestation, die noch weitreichender ist.

Ein Schüler, der sich um die Gott-Verwirklichung bemüht, ist wie ein Kind, das zu seiner Mutter krabbelt. Wenn die Mutter sieht, dass das Kind mit größter Aufrichtigkeit versucht, zu ihr hinzukrabbeln, dann läuft sie dem Kind entgegen. Auf die gleiche Weise kommt Gott zu dem aufrichtig strebenden Sucher. Mit der Gott-Enthüllung, dem zweiten Ziel, verhält es sich genauso. Gott beobachtet dich ständig. Wenn du das erste Ziel erreicht hast und dich aufrichtig danach sehnst, das zweite Ziel zu erreichen, wird er am zweiten Bestimmungsort stehen und dir entgegenkommen. Schließlich wird er am dritten Zielpunkt stehen, der Gott-Manifestation und wiederum zum richtigen Zeitpunkt da sein.“

„Warum denke ich dann manchmal, dass sich mein Ziel entfernt, Meister ?“

„Meine Tochter, dies hängt ausschließlich von deiner Aufrichtigkeit ab. Wenn du völlig aufrichtig bist, dann wird Er, der dir Verwirklichung, Enthüllung und Manifestation gewähren wird, dir näher kommen. Aber wenn du nicht aufrichtig bist, dann wird sich das Ziel beständig entfernen. Ver­wirk­lichungsziel, Enthüllungsziel, Manifestationsziel: Alle drei Ziele werden weit, weiter, am weitesten von dir abrücken, wenn es dir an Aufrichtigkeit mangelt.

Es gibt noch einen weiteren Grund, meine Tochter, warum du bisweilen denkst, dass sich dein Ziel von dir entfernt.“

„Welcher Grund ist das, Meister? Ich brenne darauf, es zu erfahren.“

„Mein Kind, jedes Mal, wenn du an jemandem etwas auszusetzen hast, solltest du fühlen, dass du einen Schritt mehr tun musst, um zu deinem Ziel zu gelangen. Nehmen wir einmal an, dein Ziel befände sich in einhundert Meter Entfernung vor dir. Von dem Augenblick an, an dem du dich über jemanden ärgerst, dich mit jemandem streitest, auf jemanden eifersüchtig bist, von dem Augenblick an bleibt dein Ziel nicht mehr einhundert Meter von dir entfernt, sondern es ist einhundert und ein Meter von dir entfernt. Jedes Mal, wenn du dich an ungöttlichen Gedanken über Dritte erfreust, wächst die Entfernung zu deinem Bestimmungsort, rückt dein Ziel weiter weg. Nun kannst du also erkennen, wer in diesem Fall der Verlierer ist. Nur ein Dummkopf wird seinen Fortschritt verzögern wollen. Du willst kein Dummkopf sein.“

„Meister, ich will natürlich nicht versuchen, absichtlich etwas Falsches zu tun. Aber das Ziel ist so weit weg. Macht dieser eine zusätzliche Schritt tatsächlich einen so großen Unterschied?“

„Liebste Tochter, du versuchst deinen Bestimmungsort schnellstmöglich zu erreichen, da du unsere Philosophie studiert hast und du weißt, dass selbst die Verwirklichung nicht das höchste Ziel ist. Nehmen wir einmal an, dass du deinen Doktortitel erwerben willst, aber im Augenblick noch nicht einmal das Gymnasium besucht hast. Zuerst brauchst du das Abitur, danach einen Abschluss an der Universität und schließlich wirst du deinen Doktortitel bekommen. Dein Ziel liegt sehr weit weg. Was tust du also im Augenblick? Du bemühst dich mit all deinem Eifer, um deinen ersten Abschluss zu bekommen. Aber was wird geschehen, wenn du nicht zur Schule gehst? Ähnlich verhält es sich in deinem Leben des inneren Strebens. Was wird geschehen, wenn du Eifersucht, Unsicherheit, Ärger und Aggression studierst, was die völlig falschen Fächer sind? Jedes Mal, wenn du etwas Falsches tust, fühle bitte, dass du einen Schritt mehr tun musst, um deine Aufgabe zu erfüllen. Du studierst mit größter Anstrengung. Du möchtest deinen endgültigen Erfolg nicht einmal um eine Sekunde verzögern.“

„Meister, im Augenblick sind diese Ziele für mich die reinste Unmöglichkeit. Warum strebe ich trotz allem über­haupt danach?“

„Warum du diese Ziele erreichen möchtest? Weil du Erfüllung brauchst, deswegen. Es gibt keinen anderen Grund. Du willst dich auf göttliche Weise erfüllen, auf Gottes eigene Weise. Wenn du Erfüllung möchtest, musst du etwas dafür tun, um diese Erfüllung zu erreichen. Wenn du einen Mangobaum hinaufkletterst, dann nimmst du dir eine Mango und isst sie. So schmeckt die Mango weitaus süßer, als wenn sie dir jemand ohne dein persönliches Zutun einfach gegeben hätte. Wenn du keinen Finger dafür gerührt hättest, würdest du die Mango vielleicht wegwerfen. Die Person, die dir die Mango gebracht hat, mag zwar sagen, dass sie überaus köstlich schmeckt, aber weil du keinen persönlichen Anteil an der Arbeit hattest, wird dir die Mango nicht so köstlich vorkommen.

Wenn du dich selbst anstrengst, wirst du Gottes Gnade erhalten. Wenn du den Baum hinaufklettern möchtest, dann hilft dir jemand beim Klettern und dieser Jemand ist der Supreme in dir. Aber wenn du den Baum nicht hin­aufklettern willst und der Supreme an deiner Stelle hinaufklettert, um dir die Mango zu bringen, dann kann ich dir versichern, dass du keine Zufriedenheit erhalten wirst. Deshalb müssen deine persönliche Anstrengung und Gottes Gnade Hand in Hand gehen, denn nur dann wirst du göttlich erfüllt sein.“

„Meister, du hast unermessliches Licht in meine Fragen gebracht. Aber sage mir bitte, wie ich damit aufhören kann, diese falschen Dinge zu tun.“

„Meine Tochter, du bist in meinem Ashram, du bist in meinem Boot, du bist untrennbar mit meiner Mission verbunden. Heute repräsentierst du Gottes Traum hier auf Erden, morgen wirst du Gottes Wirklichkeit verkörpern. Wenn du diese erhabene Wahrheit im Gedächtnis behältst, werden deine Frustrations-Krank­­heit, deine Depressions-Krankheit, deine Ärger-Krank­heit, deine Unsicherheits-Krankheit, deine Eifer­suchts-Krankheit, deine Versagens-Krankheit – all diese Krankheiten werden im Handumdrehen verschwinden. Du weißt, was deine letztendliche Bestimmung ist. Wenn du erst einmal das Ziel erreichst, wenn du zum Ziel wirst, wirst du erkennen, dass es das ist, was du schon immer gewesen bist.“

Der Meister segnete seine ihm teure Schülerin. „Nun gut mein Kind, du hast dir meine Predigt angehört. Es ist meine Fürsorge, die spricht, es ist mein Mitgefühl, das spricht, es ist meine Dankbarkeit, die spricht. Betrachte mein Weisheits-Licht stets auf diese Weise.“

From:Sri Chinmoy,Ein Universum von Heiligen, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/gs