Die Schelte des Meisters

„Meine Tochter, warum siehst du heute so traurig aus ? Du solltest froh und stolz sein, dass ich dich gebeten habe, in meinen Ashram zu kommen und für mich zu arbeiten.“

„Es tut mir leid, Meister. Ich muss immer an deine Schelte von gestern denken.“

„Es stimmt, dass ich dich gestern gnadenlos gescholten habe, aber heute zeige ich dir meine unendliche Liebe und Zuneigung. Weshalb musst du immer an meine Schelte denken?“

„Ich weiß es nicht, Meister.“

„Bist du verärgert?“

„Meister, ist es ein Gefühl der Verbitterung oder ein Gefühl der Hilflosigkeit?“

„In diesem Fall, meine Tochter, handelt es sich nicht um ein Gefühl der Hilflosigkeit; es ist eine innere Auflehnung.“

„Meister, was sollte ich tun, damit ich mich nicht auf diese Weise auflehne?“

„Du solltest fühlen, dass alles, was ich sage, völlig richtig, absolut notwendig ist. Ganz gleich, was ich sage, selbst wenn ich dies auf eine scherzhafte Art tue, es ist zum Wohle meiner Schüler. Wenn du über etwas, das ich sage, verärgert bist oder es dich verlegen macht, wirst du mein Licht nicht empfangen.“

„Manchmal fühle ich mich wirklich nutzlos und hoffnungslos, wenn du meine Begrenzungen und Schwächen so deutlich herausstellst.“

„Wenn dies der Fall ist, fühle dich nicht niedergeschlagen oder entmutigt, mein Kind. Fühle stattdessen, dass es da jemanden gibt, der dich wirklich liebt, der bedingungslos für dich sorgt.“

„Fühlst du dich jemals entmutigt, wenn ich wieder und wieder die gleichen Fehler mache?“

„Wenn ich ein gewöhnlicher Mensch wäre, hätte ich meine Bemühungen um dich schon längst aufgegeben. Ich hätte gesagt: ‚Sie ist nutzlos, hoffnungslos. Ihre Natur zu verwandeln ist eine unmögliche Aufgabe.’ Aber das Göttliche in mir wird sich niemals so verhalten. Wenn es sich um meine spirituellen Schüler handelt, dann wirkt meine bedingungslose Liebe, meine bedingungslose Fürsorge und mein bedingungsloses Mitgefühl. Ganz gleich, was du getan hast, ganz gleich, was du tust, ich werde nicht aufhören, dir meine bedingungslose Fürsorge zu zeigen.“

„Meister, es tut mir leid, dass ich dessen nicht würdig bin.“

„Alles ist bedingungslos, mein Kind. So, wie ich dich gebeten habe, dass du in deiner Liebe, deiner Ergebenheit und deiner Selbsthingabe bedingungslos und rückhaltlos sein solltest, so bin auch ich bedingungslos, was dich betrifft. Ich predige nicht nur, ich praktiziere auch. Wieder und wieder werde ich zu dir kommen und dir meine bedingungslose Führung in der Hoffnung anbieten, dass du dich nach und nach verbesserst.“

„Verbessere ich mich, Meister? Werde ich mich verbessern?“

„Gestern habe ich anderthalb Stunden zu dir gesprochen. Das bedeutet, dass ich der Ansicht bin, dass du mein Licht und meine Weisheit aufnehmen kannst. Du solltest glücklich und stolz sein, dass ich so viel Zeit mit dir verbracht habe. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass dein Fall hoffnungslos ist, hätte ich den Kampf ganz einfach aufgegeben. Dein Problem besteht darin, dass du nicht das nötige Vertrauen hast, dass du deine Schwächen überwinden kannst. Doch wenn du mich ständig in deinem Herzen fühlen kannst, wirst du Vertrauen in dich selbst haben.“

„Meister, es gibt noch etwas, das ich dir sagen sollte. Manchmal schäme ich mich so wegen meiner Schwächen.“

„Tochter, wenn ich dein höchster Herr, dein geliebter Supreme bin, was du mir ja immer sagst, dann solltest du nicht das Gefühl haben, irgend etwas vor mir verbergen zu müssen. Es gibt nichts, was du versuchen solltest, von mir fernzuhalten, es gibt nichts in deiner Natur, dessen du dich schämen müsstest. Wenn du weißt, dass ich dein liebster Herr bin, dann fühle nur das Einssein, dein untrennbares Einssein. Die Schöpfung versucht nicht, sich vor dem Schöpfer zu verbergen. Wenn du einen Klumpen Lehm hast und ihn darbringst, damit er geformt werde, wird er nicht länger ohne Form, schmutzig und unrein bleiben. So kann ich auch deine Unwissenheit verwandeln, wenn du sie mir anbietest. Meine Tochter, fühlst du nicht, wie liebevoll und göttlich ich dich geführt, geformt und an dir gearbeitet habe?“

Der Meister machte eine Pause. „Wie stark ist deine Hingabe deines Selbst an mich, mein Kind? Wenn ich dir aufgetragen hätte, woanders arbeiten zu gehen: würdest du die Arbeit genauso fröhlich verrichten wie in meinem Beisein? Wenn ich dich um etwas bitte, tust du es bereitwillig, fröhlich, bedingungslos?“

„Meister, ich gebe zu, dass meine Hingabe nicht sehr stark ist. Normalerweise bin ich die meiste Zeit des Tages nicht bei dir und deshalb nehme ich nicht an, dass ich ein wesentlicher Bestandteil deines Lebens bin.“

„Tochter, vergeht ein Tag, ohne dass ich dich sehe oder mit dir telefoniere? Auf so vielfältige Weise bringe ich dich näher zu mir. Indem ich dich mit allen möglichen Arten des selbstlosen Dienens beauftrage, gebe ich dir die Möglichkeit, ein untrennbarer Bestandteil meines Lebens zu werden. Wenn du für mich arbeitest, ist es so einfach, in meinem Bewusstsein zu sein, mich in deinem Herzen zu fühlen. Worauf es ankommt ist nicht, wie oft du in meiner Gegenwart bist, sondern wie sehr du mich in deinem Herzen bewahrst. Meine Schwester, die tausende Meilen von hier entfernt lebt, ist mir so teuer. Und ich bedeute ihr alles, ich bin ihre ganze Welt. Aber ich kann lediglich zwei- oder dreimal im Monat mit ihr telefonieren. Glaubst du, dass sie mir nicht sehr lieb ist?“

„Meister, ich sollte mir nicht so viele Gedanken über andere Schüler machen, die mehr mit dir zusammen sind als ich.“

„Meine liebste Tochter, ich weiß, was für dich am besten ist, was dich in die Lage versetzt, schnellsten Fortschritt zu machen. Ich tue für jeden meiner Schüler das Richtige.“

„Selbst wenn ich mit dir zusammen bin, Meister, bin ich mir oft schmerzhaft meiner Begrenzungen gewahr, auf die du mich hingewiesen hast.“

„Warum erlaubst du diesen geistigen Kopfschmerzen, dass sie dich quälen? Wie viel Vertrauen hast du in mich? Kannst du nicht fühlen, dass ich alles für dich tun werde? Du solltest froh sein, dass es jemanden gibt, der dich wahrhaft bedingungslos und rückhaltlos liebt. Komm, mein Kind, ich werde dich segnen.“

Der Meister segnete die Schülerin. „Glaubst du, was ich sage?“

„Ich glaube es.“

„Fühlst du es?“

„Ich fühle es, Meister.“

„Dann wachse in das hinein, mein Kind. Glaube daran, dass ich alles für dich tue. Fühle mich jederzeit in deinem Herzen. Vergrößere deine Liebe zu mir. Mache deine Hingabe freudig und bedingungslos. Du wirst meine wahre Freude, mein höchster Stolz sein. Und du wirst ewig sicher, glücklich und erfüllt sein.“

From:Sri Chinmoy,Ein Universum von Heiligen, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/gs