TDer Gipfel der Undankbarkeit

Es gab einmal einen spirituellen Meister, der nur hundert Schüler hatte. Die meisten seiner Schüler waren voller Zuneigung und Liebe für ihn. Auch der Meister war voller Liebe und Zuneigung für sie. Doch er besaß spezielle Anteilnahme für jene, die im Vergleich schwach und unsicher waren und das Gefühl hatten, ihr Leben sei nutzlos.

Es gab eine ganz bestimmte Schülerin, eine Frau von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, die sehr unsicher war. Abgesehen davon hatte sie auch gewisse Schwierigkeiten mit einer ihrer Lungen. Daher hatte der Meister spezielle Anteilnahme für sie. Sie hatte bereits viele Ärzten konsultiert, doch die Ärzte konnten sie nicht heilen. Von Zeit zu Zeit pflegten sie das Licht des Meisters zu empfangen und dann fühlte sie sich ein wenig besser. Doch wenn sie sein Licht nicht empfing, litt sie stark. Manchmal konnte sie wegen ihrer schwachen Lunge nicht schlafen und der Meister musste ihr auf der physischen Ebene okkulte Ratschläge geben, wie sie einschlafen könne. Dann konnte sie jeweils einige Tage lang schlafen, doch bald begann sie erneut zu leiden.

Der Meister war dieser Frau gegenüber voller Mitgefühl, doch er wusste, dass ihr Leiden erst dann ein Ende nehmen würde, wenn er die Erlaubnis erhalten würde, ihr offen den Grund dafür zu sagen. Sie bat ihn stets: „Bitte sei offen mit mir und sage mir, warum ich so stark leide.“

Der Meister fragte Gott, ob er der Frau sagen könne, warum sie eine schwache Lunge bekomme hätte. Doch Gott sagte ihm: „Wenn du ihr sagst, warum sie leidet, wird sie dich morgen verlassen.“

Der Meister antwortete: „Brauche ich sie denn?“

„Zugegeben, du brauchst sie nicht“, sagte Gott, „Doch wenn sie auf deinem Weg bleibt, wenn sie weiterhin zu dir kommt, um spirituelle Führung zu erhalten, dann besteht eine gewisse Hoffnung, dass sie eines Tages wirklich dein Licht in großem Maße empfangen wird. Dann wirst du ihre Lunge heilen können. Doch wenn du ihr sagst, sie leide wegen ihres emotionalen, wegen ihres niederen vitalen Lebens und sie müsse dieses Leben aufgeben, wird sie dann die Fähigkeit haben, das zu tun? Sie führt zwar im Augenblick ein Doppelleben. Sie ist fünfundfünfzig Jahre alt und nicht verheiratet, doch sie lebt in der emotionalen Welt. Wenn du ihr sagst, sie solle ein reines Leben führen und ihre ganzen vitalen Beziehungen aufgeben, wird sie das unmöglich tun können. Sie wird höchstens ihr spirituelles Leben aufgeben. Am besten ignorierst du daher diese Seite und hilfst ihr so viel du kannst. Du weißt, wie viel sie wegen ihres emotionalen Lebens leidet.“

Der Meister sagte: „Gerade, weil sie durch ihr emotionales Leben leidet, wäre es doch klug, ihr offen den Grund ihres Leidens zu zeigen, selbst wenn ich mir dabei wie ein Metzger vorkomme.“

Gott wurde sehr ernst und sagte dem Meister: „Handle nicht gegen Meinen Willen. Du darfst ihr nie sagen, warum sie leidet. Gib ihr einfach soviel Licht, wie du kannst. Das möchte Ich von dir.“

Der Meister unterwarf sich sofort Gottes Willen und sage: „Selbstverständlich.“

Der Meister fuhr fort, dieser Frau sein tiefstes Mitgefühl zu zeigen. Er wusste, dass es für jemand, der an einem Lungenleiden litt, am besten sei, nur sehr einfache Arbeiten zu verrichten. Er machte sie zu seiner Gärtnerin und gab ihr einige Aufgaben als Sekretärin. Manchmal musste sie Interviews für ihn arrangieren und bei seinen Treffen die Anwesenheitsliste erstellen oder bei verschiedenen Aktivitäten Notizen machen.

Der Meister ermutigte sie auch, sich mit der Blumenwelt zu beschäftigen. Er tat es in der geheimen Absicht, dass eine gewisse Reinheit in ihr Leben eintreten und sie ein besseres Leben führen würde, wenn sie in der Blumenwelt verweilte. Natürlich war diese Hoffnung absurd. Wenn dies wirklich der Fall wäre, dann würden Gärtner und Blumenhändler so zu erstklassigen reinen Seelen werden. Man kann Blumen berühren und ihren Duft einatmen, doch der Verstand kann trotzdem ein Abfallhaufen bleiben. Aber da Blumen Reinheit verkörpern, hoffte der Meister entgegen allem Wissen, dass die Blumen in ihrem Herzen, in ihrem Verstand und in ihrer physischen Existenz eine gewisse Reinheit erschaffen würden.

Dies ging einige Zeit lang so weiter. Die Frau litt und der Meister litt. Eines Tages sagte sie zu einer der liebsten Schülerinnen des Meisters: „Dieser Meister ist wertlos. Er besitzt keine spirituelle Kraft, keine okkulte Kraft, nichts, nichts, absolut nichts. Ich habe an ihn geglaubt. Manchmal habe ich ihn insgeheim ‘Vater’ genannt und am Vatertag habe ich ihm eine Karte gegeben, auf die ich geschrieben hatte: ‘Väter kommen, Väter gehen. Doch hier ist ein Vater, der mich nicht verlassen wird, selbst wenn ich ihn verlassen will. Er ist mein ewiger Vater, der Vater meiner Ewigkeit.’ Nun erkenne ich, dass alles, was ich von ihm gedacht habe, falsch war.

Hätte mein physischer Vater irgendwelche Fähigkeiten oder Geld gehabt, hätte er mir alles gegeben, was er mir hätte geben können, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Ich nannte diesen Mann meinen Vater, doch er will mir nicht helfen. Entweder hat er die Fähigkeit nicht oder er hat die Fähigkeit, will sie aber für mich nicht gebrauchen. Mein Gefühl ist, dass er die Fähigkeit nicht besitzt. Warum sollte ich an die andere Möglichkeit denken? Er hat die Fähigkeit nicht und deshalb ist es das Beste für mich, ihn zu verlassen und einen anderen Meister zu suchen.“

Als die Schülerin dies dem Meister erzählte, sagte der Meister: „Ich bin so glücklich, dies zu hören. Wenn sie mich verlässt, werde ich der glücklichste Mensch sein. Ich habe gelitten und sie hat gelitten und ich kann ihr nicht mehr helfen.“

Die Schülerin fragte: „Warum kannst du ihr nicht mehr helfen?“

„Ich kann einfach nicht mehr“, antwortete der Meister. „Die Fähigkeit, die Gott mir gegeben hat, ist sehr begrenzt. Ich kann ihr nicht weiterhelfen.“

In dieser Nacht kam Gott zum Meister und sagte: „Nun ist die Zeit gekommen, deiner Schülerin zu sagen, dass du sie wegen ihres vitalen Lebens nicht heilen kannst.“

Der Meister erzählte alles, was er von der Freundin dieser Frau gehört hatte. Gott lachte und sagte dann:

„Ich sage dir, die Zeit ist gekommen. Sage es ihr morgen.“

Da diese Frau dem Meister nahestand, ließ er sie am nächsten Tag rufen. Sie kam dann, um in seinem Garten zu arbeiten. In jenen Tagen hatte der Meister nicht so viele enge Schüler, die für ihn kochten und er selbst kochte höchst selten, vielleicht einmal im Jahr. Doch an diesem Tag fühlte der Meister ein überwältigendes Mitgefühl in sein Leben eintreten. Da er von seinem Chef, dem höchsten Supreme, angehalten worden war, die Atombombe fallen zu lassen, hatte er das Gefühl, dass es das Beste sei, diese Frau im Vorhinein zu trösten. Als erstes wollte er ihr ein Meer von Zuneigung und Anteilnahme zeigen.

So kochte der Meister selbst eine Mahlzeit mit genießbaren oder ungenießbaren Bestandteilen, doch jedenfalls mit tiefster Liebe, Anteilnahme und tiefstem Mitgefühl. Er bereitete einige Speisen vor und lud die Schülerin dann ein, in die Küche zu kommen und mit ihm zu essen. Die Schülerin war so dankbar. Sie war erfüllt von Dankbarkeit und sagte zum Meister: „Heute zeigst du mir solche Zuneigung, solche Anteilnahme, solches Mitgefühl. Warum heilst du mich immer noch nicht? Du weißt, wie sehr ich leide. Erst letzte Nacht habe ich so viel gelitten.“

Der Meister dachte sofort daran, was Gott ihm aufgetragen hatte und sagte: „Wie kannst du von mir erwarten, dass ich dich heile, wenn du genau weißt, was für eine Art von Leben du führst? Du führst ein sehr unreines Leben.“

„Ha“, schrie die Schülerin und wurde wütend. Sie stand auf und fegte dabei einen Teller weg, der auf den Fußboden fiel und zerbrach. Was für eine Szene sie machte! „Das hast du also von mir gedacht. Solche Gedanken sind durch deinen Kopf gegangen. Du weißt, was für ein Leben ich geführt habe: das reinste Leben. Ich bin ledig. Ich war nie verheiratet, sondern kam stattdessen zu dir, um Gott zu verwirklichen. Und heute nun, nach so vielen Jahren, sagst du mir so etwas. Ist irgendeiner deiner Schüler so rein wie ich?“

Der Meister lachte und sagte: „Gibt es einen unter meinen Schülern, der so heuchlerisch ist wie du? Wenn meine anderen Schüler ein ungöttliches Leben führen, dann sagen sie mir alles. Sie sagen es mir selbst auf der physischen Ebene. Ich brauche mich nicht auf die inneren Ebenen zu konzentrieren, um zu wissen, was in ihrem Leben auf der physischen, vitalen und emotionalen Ebene geschieht. Sie machen ihr Leben zu einem offenen Buch für mich. Doch während der letzten drei Jahre hast du mich getäuscht. Eine Zeitlang hat mich Gott gebeten, dir nichts zu sagen, denn wenn ich es dir gesagt hätte, hättest du meinen Weg schon lange verlassen. Doch jetzt hat mich Gott gebeten, dir gegenüber ganz offen zu sein. Deshalb sage ich dir dies.“

„Bleibe mit deinem Gott. Ich brauche dich nicht und ich brauche deinen Gott nicht. Ich kann dir nur soviel sagen: Du irrst dich hundertprozentig!“

Der Meister wurde zornig und sagte: „Wen versuchst du zu täuschen? Du kannst die ganze Welt täuschen, aber nicht mich. Wer ist vor sechs Tagen um drei Uhr morgens um deine Türe geschlichen? War es nicht dein Freund? Du hast die Türe nicht geöffnet, obwohl er immer wieder klingelte. Warum? Einfach, weil dich deine Seele erleuchtete. Ich versuchte, das Licht deiner Seele in dein Vitales, dein emotionales Leben zu bringen und du hast mich innerlich gesehen. Am folgenden Tag bist du zu mir gekommen und hast gesagt: ‘Meister, ich habe dich in einem Traum gesehen. Du warst so schön, so leuchtend. Ich war so erfreut, dich in meinem Haus zu sehen.’ Ich lächelte dir zu. Hast du diesen Vorfall vergessen? Weil das Licht meiner Seele in deine Seele eingetreten war, warst du so bewegt, dass du deinem Freund nicht geantwortet hast. Was hättest du mit deinem Freund zu jener Stunde getan? Warum war er gekommen?“

„Ach, ach, ach, mein Freund, er kam... Er lebt nicht hier... Er lebt woanders. Er war ins Kino gegangen und war betrunken. Er hatte sich verlaufen und konnte nicht heimgehen und so dachte er, wenn er ein paar Stunden ...“

„Ich weiß, ich weiß. Ich kenne alle diese Geschichten. Ich sage dir einfach, warum Gott mir verboten hatte, dir den Grund zu sagen, warum ich dich nicht heilen konnte. Er wusste, dass ich dich an dem Tag verlieren würde, an dem ich offen mit dir redete. Gott will jedoch nicht, dass du weiterhin auf meinem Weg bleibst. Er möchte nun, dass du mich verlässt, denn du bist ein hoffnungsloser Fall. Du musst deine eigenen Wege gehen und ich muss mit meinen Schülern meinen eigenen Weg gehen. Nun kannst du gehen. Die Zeit ist gekommen. Täusche mich nicht länger.“

Sie verließ ihn, doch ihre Wut verließ sie nicht und sie wollte den Meister bestrafen. Der Meister besaß einige spirituelle Zentren und ging eines seiner Zentren besuchen, das zweitausend Meilen entfernt lag. Als er von seiner Reise zurückkam, erwartete ihn ein schmerzvoller Schock: diese ehemalige Schülerin hatte ihren Freund, ein in dieser Hinsicht berüchtigten Kerl dazu gebracht, zwei anderen Halunken zu einem Einbruch anzustiften. In der Abwesenheit des Meisters hatten diese die Türe aufgebrochen und waren in sein Haus eingedrungen. Im Schlafzimmer und im Meditationsraum hatten sie einen großen Schaden angerichtet und viele teuere Dinge gestohlen.

Der Meister war schockiert. Er spielte mit dem Gedanken, seine Ex-Schülerin anzurufen und ihr ein wenig von seiner okkulten Kraft zu zeigen. Doch sein Boss, der Supreme, sein ewiger Geliebter, sagte: „Es liegt unter deiner Würde, mit diesen Leuten auf ihrer eigenen Ebene umzugehen. Sobald du mit Menschen offen sprichst, kommen ihre tierischen Eigenschaften zum Vorschein, sofern sie nicht wirklich aufrichtig sind, sofern sie nicht wirklich das spirituelle Leben annehmen wollen. Ich hatte dich schon lange gewarnt. Drei Jahre lang hatte Ich dich gewarnt. Dann habe ich deinem Vorschlag zugestimmt, weil Ich das Gefühl hatte, dass diese Schülerin dich ruhig verlassen kann, da sie ein hoffnungsloser Fall war. Dies ist die letzte Strafe, das letzte Leiden, das du von ihr über dich ergehen lassen musst. Deine Geschichte mit dieser bestimmten Schülerin wird nun vorbei sein.“ Und die Geschichte mit dieser bestimmten Schülerin endete wirklich. Der Supreme hatte wie gewöhnlich recht.

Kommentar: Man kann versuchen, die Unwissenheit zu erleuchten, man kann freundlich sein, voller Zuneigung sein, voller Anteilnahme sein, jeden Augenblick zusätzliche Anstrengungen machen, um einen ungöttliches Menschen zu erleuchten. Und als Gegenleistung wird einem das Haus ausgeraubt! Dann muss man hart arbeiten, um alles wieder zu ersetzen. Was sonst ist der Gipfel der Undankbarkeit, wenn nicht dies?

So ist das Leben. Zuerst bellt der Hund. Dann wenn bellen nicht genügt, beißt er einem so stark, dass es unser Leben gefährdet. Doch wenn Gottes Schutz, Gottes Mitgefühl und Gottes Licht in einem und durch einem wirken, dann kann man den Biss des Hundes leicht überleben, wie es der Meister tat.“

14. September 1974

From:Sri Chinmoy,Dankbarkeits-Himmel und Undankbarkeits-Meer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2006
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/gsi