Aufrichtigkeit währt am längsten

Es gab einmal einen spirituellen Meister, der nicht einen einzigen Schüler hatte, obwohl er Gott schon vor vielen Jahren verwirklicht hatte. Er hatte jedoch ein paar Freunde und Bewunderer.

Eines Tages war er mit einigen seiner Bewunderer in das Haus eines bekannten Anwalts eingeladen. Der Anwalt war, obwohl er sich nicht für Spiritualität interessierte, dem spirituellen Meister gegenüber sehr nett und freundlich. Der Anwalt wollte sich nicht vor den anderen lächerlich machen, weil er nichts von Spiritualität verstand und fragte daher den spirituellen Meister aus reiner Neugierde und auch, weil die Freunde des spirituellen Meisters alle etwas über Spiritualität wussten, ob er ihn Meditation lehren könne. Der Anwalt sagte, er wäre äußerst froh und dankbar, wenn der Meister auch ihm einige Ergebnisse seiner Meditation vermitteln könnte.

Der Meister war nett genug, dem Juristen zu sagen: „Ich werde dich alles über Spiritualität lehren. Komm mit mir. Lass uns einen kleinen Spaziergang machen.“ Der Meister sagte zu seinen Freunden: „Bitte wartet hier. Wir machen einen kleinen Spaziergang, werden jedoch bald zurück sein.“

Unterwegs sprach der Meister nur ein paar Worte zum Anwalt. Der Meister war in einer sehr hohen kontemplativen Stimmung und der Jurist war sehr unspirituell, er war ein ganz gewöhnlicher Mensch. Er kannte sich zwar gut in den Gesetzen aus, doch das Leben der Spiritualität war nicht für ihn bestimmt, zumindest nicht im Augenblick. So konnte der Meister ihm nur wenig Frieden, ein klein wenig Frieden geben, weil er nicht bereit war, mehr zu empfangen.

Nach einer Weile kehrten sie zum Haus des Anwalts zurück, wo alle auf das Essen warteten. Als sie das Haus betraten, brach der Anwalt plötzlich in Tränen aus und rief: „Zum ersten Male in diesem Leben habe ich einen spirituellen Meister gesehen. Er hat mir solchen Frieden gegeben. Ich habe so gut meditiert, dass ich voller Frieden und innerem Licht bin. Mein ganzes Leben habe ich mich mit Gesetzen befasst, doch jetzt sehe ich, dass alles eine Täuschung, eine reine Täuschung ist.“ Der Anwalt zeigte dem Meister gegenüber tiefe Dankbarkeit, weil er, wie er sagte, so viel von ihm erhalte habe.

Die drei Töchter des Anwalts waren von den Tränen ihres Vaters tief gerührt. Und auch die Frau war gerührt. Äußerlich schienen die Freunde des Anwalts höchst zufrieden zu sein. Doch innerlich fühlten sie: „Dieser spirituelle Meister ist bereits seit so langer Zeit unser Freund, doch uns hat er keine Freude, kein spirituelles Licht gegeben. Er hat uns keine seiner Fähigkeiten gezeigt und uns diese Erfahrungen nicht gegeben.“ Aus diesem Grunde waren sie innerlich erbost über den spirituellen Meister. Doch sie fühlten, dass der Anwalt etwas erhalten hatte und dachten, dass auch sie etwas vom spirituellen Meister erhielten, wenn sie wirklich aufrichtig würden.

Doch der Meister wusste, wie wenig er diesem Anwalt zu geben vermochte. Als der Meister die Übertreibung des Anwalts hörte, war der Meister über dessen Unaufrichtigkeit tief betrübt.

Die Jahre gingen vorbei und der Meister kam mit diesem Anwalt nicht mehr in Kontakt. Unterdessen war der Meister bekannt geworden. Er hatte Hunderte und Tausende von Schülern. Eines Tages geschah es, dass ein Freund des Meisters den Meister und einige Sucher zu sich nach Hause einlud. Die Freunde des Meisters waren glücklich und stolz, dass er als spiritueller Meister bekannt geworden war und als ihr alter Freund zu ihnen nach Hause kam.

Wie es der Zufall wollte, war derselbe Anwalt mit seiner Frau anwesend; doch er war inzwischen alt geworden. Sobald die Frau des Anwalts den spirituellen Meister sah, war sie hoch erfreut. Sie sagte ihm: „Erst letzte Woche habe ich einen Brief von meiner Tochter Judith erhalten. Sie hat dich kürzlich an einer Universität gesehen. Es waren ungefähr fünfhundert Zuhörer dort. Sie war so tief bewegt. Sie hörte deinem Vortrag zu und hat nachher gesagt, dass du ihr Leben erleuchtet hättest. Nachher hatte sie eine innere Vision von dir und sie war erfüllt von Freude und Glückseligkeit. Dies alles hast du ihr gegeben.“

Als der Meister vor einigen Jahren zu diesem Haus des Anwalts gegangen war, hatten sich die Mädchen überhaupt nicht für das spirituelle Leben interessiert und hatten dem Meister keine Fragen zu stellen. Sie hatten sich im Gegenteil auf lächerliche Weise amüsiert, als sie den spirituellen Meister gesehen hatten. Deshalb war der Meister ein wenig überrascht. Er sagte: „Aber sie ist nach dem Vortrag nicht zu mir gekommen.“

„Sie hatte das Gefühl, dass du sie nicht wieder erkannt hättest, aber sie hatte dich wieder erkannt, weil du nun groß und bekannt geworden bist. Als du vor fünfzehn Jahren zu uns gekommen bist, warst du unbekannt und deshalb hatte sie dir keine Aufmerksamkeit geschenkt. Nun bist du groß geworden und Größe zieht Bewunderung und Verehrung auf sich.“

Während dieses Gesprächs verbrachte der Anwalt und die Freunde des Meisters einen wunderschönen Abend. Sie sprachen über viele spirituelle Meister und spirituelle Themen und hatten eine höchst erfreuliche Konversation. Plötzlich sagte der Anwalt zu allen Anwesenden: „Schaut auf diesen spirituellen Meister.“ Dann wandte er sich dem Meister zu und sagte: „Du erinnerst dich, wie ich dich vor vielen Jahre gebeten habe, mir zu zeigen, wie man meditiert. Glaub mir, die Meditation, die ich hatte, während ich mit dir einen kurzen Spaziergang machte, verbliebt bis heute in meinem Verstand und in meinem Herzen. Dies war die bedeutsamste Erfahrung, die ich je gehabt habe. Seitdem habe ich unzählige Male an verschiedenen Orten meditiert, doch nie habe ich seither eine solch hohe Erfahrung erhalten.“

Der Meister sah innerlich, dass die Worte des Anwalts einmal mehr eine Schmeichelei waren. Nun, da der Meister wirklich bekannt geworden war, wollte der Anwalt seine Fähigkeit, seine Großzügigkeit und sein Mitgefühl ausnützen, indem er den Freunden und Bewunderern des Meisters zeigte, dass er den Meister bereits vor vielen Jahren kennen gelernt hatte und dass der Meister damals zu seinem Haus gekommen war.

Der Meister war traurig, fühlte sich unwohl und sagte zum Anwalt: „Bitte komm mit mir.“ Sie gingen an einen stillen Ort und dort sagte der Meister: „Erlaube mir bitte, mit dir zu meditieren.“

Der Anwalt war tief gerührt, dass der Meister aus so vielen Anwesenden ihn ausgewählt hatte. Er war von Freude und Stolz erfüllt. Der Meister meditierte zehn Minuten lang und während dieser Zeit beobachtete ein junger Mann von achtzehn oder neunzehn Jahren die Meditation des Meisters und Tränen der Dankbarkeit strömten von seinen Augen über die Wangen. Dieser junge Mann schwamm im Meer der Freude und der Dankbarkeit, weil er nun diesen Meister von Angesicht zu Angesicht sehen konnte. Er hatte diesen spirituellen Meister fünf oder sechs Mal bei seinen Vorträgen gesehen und hatte schon immer den Wunsch gehegt, ein Schüler des Meisters werden. Er hatte einen Brief geschrieben, doch der Meister hatte ihm nicht geantwortet. Als er auf seinen Brief keine Antwort erhielt, war er der Meinung, er sei nicht für den Weg dieses Meisters geeignet und begann nach anderen Meistern Umschau zu halten und wurde schließlich ein Schüler von jemand anderem. Doch nun sah er in diesem Meister etwas von sich selbst, etwas, das ganz ihm gehörte. Er konnte seine innere Emotion nicht beherrschen und brach in Tränen aus.

Als der Anwalt diesen jungen Mann weinen und schluchzen hörte, wurde er wütend und sagte: „Verschwinde von hier. Du ruinierst meine Meditation. Der Meister will mir etwas sehr Hohes geben und alles, was du machst ist weinen. Lass uns alleine. Verschwinde von hier.“

Dem Meister tat der junge Mann sehr leid, da er wusste, dass der Junge äußerst aufrichtig war. Er schenkte ihm daher einen Blick voller Liebe und Mitgefühl. Der junge Mann warf sich auf den Boden zu Füßen des Meisters und er wurde vom Meister gesegnet.

Der junge Mann ging dann weg, und der Anwalt konnte wieder Frieden und Licht vom Meister empfangen. Diesmal war es dem Meister möglich, dem alten Mann weit mehr zu geben. Es lag nicht daran, dass der alte Mann größere Empfänglichkeit entwickelt hatte und auch nicht wegen seiner echten Spiritualität, sondern weil er nun wirkliche Verehrung und Bewunderung für den Meister empfand, da dieser in der Zwischenzeit Tausende von Schülern hatte.

Nach der Meditation ging der Anwalt zurück in den Raum, wo die anderen miteinander plauderten und sagte: „Heute habe ich wirklich etwas empfangen. Ich habe eine Erfahrung gehabt, die nicht von einer anderen Erfahrung übertroffen werden kann. Heute hat mir euer Freund, der Meister, wirklichen Frieden und grenzenloses Licht gegeben. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Frieden gesehnt und unter dem Mangel an Frieden gelitten, doch heute habe ich diesen Frieden empfangen. Er hat mir seinen Frieden gegeben und diese Erfahrung wird immer in meinem Verstand und in meinem Herzen bleiben, zusammen mit meiner überfliesenden Dankbarkeit gegenüber dem Meister.“

Einmal mehr war der Meister betrübt, weil die Worte des Anwalts wiederum reine Täuschungen waren. Zweifellos hatte der Anwalt dieses Mal viel mehr vom Meister empfangen. Doch zu sagen, sein ganzes Wesen sei von Frieden und Licht überflutet und sein Herz fließe über von Dankbarkeit, war eine große Übertreibung. Der Meister sagte zu sich selbst: ‘Was soll ich mit diesem Menschen tun? Wenn er wirklich aufrichtig gewesen wäre, hätte ich so viel, so viel für ihn tun können.’ Der Meister fühlte sich wirklich traurig.

Vor seiner Frau und all seinen Freunden setzte sich der alte Anwalt unmittelbar dem Meister gegenüber und bat ihn: „Bitte, lege deine Hände auf meinen Kopf. Dies ist heute mein einziger Wunsch. Wenn du dies tust, werde ich fühlen, dass ich wirklich gesegnet bin und dass mein Leben von jemandem gesegnet worden ist, der im spirituellen Leben wirklich groß ist, von jemandem, der ein wahrer Botschafter von Frieden und Licht auf Erden ist.“

Der Meister war hilflos und legte seine Hände auf den Kopf des alten Mannes, obwohl er wusste, dass der Anwalt seinen Segen eigentlich nur wollte, damit die anderen seine spirituelle Tiefe bewundern würden. Während der Meister seine Hände auf den Kopf des Anwalts legte, richtete er ungeheure Kraft auf ihn, damit er sofort große Aufrichtigkeit entwickeln würde. Der Meister machte ihn völlig aufrichtig und segnete ihn mit der inneren Liebe und dem Licht seines Herzens.

Diesmal sagte der Anwalt zu den Anwesenden: „Als ich euch vor fünfzehn Jahren sage, ich hätte unendliches Licht empfangen, übertrieb ich maßlos. Ich hatte sehr wenig empfangen. Als ich vor einige Minuten behauptete, ich hätte so viel erhalten, übertrieb ich wieder, obwohl ich viel mehr erhalten hatte als das erste Mal. Doch nun habe ich wirklich Frieden, Licht und Glückseligkeit in höchstem Maße erhalten. Diesmal spricht meine Aufrichtigkeit. Ihr könnt den Meister fragen, ob das, was ich sage, richtig ist.

Der Meister sagte: „Ja. Die Aufrichtigkeit hat im Schlachtfeld deines Lebenskampfes gewonnen.“

Und der alte Mann fügte hinzu: „Noch etwas: Mein Leben ewig wachsender Dankbarkeit hat über mein Leben schamloser Undankbarkeit triumphiert.“

16. September 1974

From:Sri Chinmoy,Dankbarkeits-Himmel und Undankbarkeits-Meer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2006
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/gsi