Es gab einen spirituellen Meister, der nur sehr wenige Schüler hatte. Eines Tages kam einer seiner jungen Schüler traurig und deprimiert zu ihm. Als der Meister ihn nach dem Grund seiner Traurigkeit fragte, antwortete der junge Mann: „Ich habe genug von meiner Schwester Reva. Sie belästigt mich ständig. Sie hat einen Freund, der ein Taugenichts ist. Er hat viele Freundinnen und meine Schwester ist eine von ihnen. Wenn er sie vernachlässigt, fühlt sie sich traurig und deprimiert. Dann erzählt sie mir ihre ganzen pathetischen Geschichten. Natürlich habe ich vollstes Mitgefühl für sie, doch mein Mitgefühl kann ihre Probleme in keiner Weise lösen. Ich habe sie des öfteren gebeten, diese nutzlose Freundschaft aufzugeben, doch es fällt ihr sehr schwer, meinen Rat anzuhören. Gleichzeitig fällt es mir sehr schwer, all ihren Geschichten über ihren Freund zuzuhören. Du weißt, Meister, wie diese Geschichten mein Bewusstsein herabziehen. Sie ruinieren buchstäblich mein inneres Streben. Meister, bitte rette mich vor meiner Schwester und rette meine Schwester vor ihrem Freund.“
Der Meister fragte den Schüler: „Sag mir, Gokul, ist der Freund deiner Schwester sehr reich?“
„Ja Meister, er ist sehr reich, er kommt aus einer sehr reichen Familie. Doch ich glaube nicht, dass sie sich wegen des Geldes nach ihm sehnt.“
„Was ist dann der Grund?“ fragte der Meister.
„Nun, er besitzt viele gute Eigenschaften. Er besitzt ein sehr gutes Herz. Er hat ein Lehramt an einer Universität und ist sehr intelligent. Kürzlich hat er einen akademischen Preis für englische Literatur gewonnen.“
Der Meister sagte: „Ich verstehe, ich verstehe.“ Dann schloss der Meister seine Augen und konzentrierte sich einige Minuten lang. Als er seine Augen wieder öffnete, sagte er: „Ich kann ganz klar erkennen, dass deine Schwester diesen jungen Mann erhalten wird. Innerhalb eines Jahres werden sie heiraten und deine Schwester wird unserem Ashram eine große Summe Geld geben.“
„Aber meine Schwester interessiert sich weder für dich noch für das spirituelle Leben“, erwiderte Gokul.
„Zugegeben, sie interessiert sich weder für das spirituelle Leben noch für mich, doch sie wird denken, ich sei dafür verantwortlich, dass sie diesen jungen Mann erhalten hat, obwohl ich dir offen sage, dass ich in dieser Beziehung nichts machen werde. Ich bin nicht in die Welt gekommen, um solche Dinge zu tun. Ich sage dir nur, was ich okkult sehe.“
„Doch Meister, gewöhnlich misst du Voraussagungen keine Bedeutung zu. Warum sagst du heute etwas voraus? Ich bin dir natürlich zutiefst dankbar dafür.“
„Richtig mein Sohn, ich messe Voraussagungen keine Bedeutung zu. Doch jede Regel erlaubt Ausnahmen. Hier ist eine ungewöhnliche Ausnahme.“
„Meister, bitte erkläre mir, warum du von Voraussagungen nichts hältst.“
„Gokul, du hast keine Ahnung, wie viele Probleme Vorhersagen schaffen können. Wenn du meine Bücher liest, wirst du viel darüber erfahren. Doch du weißt, dass ich dies nicht deshalb voraussage, weil deine Schwester mir in der Zukunft Geld geben wird, sondern einfach deshalb, weil sie wegen ihres Freundes soviel gelitten hat. Es ist ein Akt göttlicher Gnade, um den mich ihre Seele gebeten hat. Deshalb erfülle ich die Bitte ihre Seele. Geh nach Hause und sage deiner Schwester, dass sie diesen Mann definitiv erhalten wird. Innerhalb einer Woche wird sie von ihm hören und von dann an werden sie einander sehr, sehr nahestehen und werden schließlich heiraten.“
Gokul rannte nach Hause. Als er nach Hause kam, fand er seine Schwester traurig und deprimiert im Wohnzimmer sitzend, auf ein Bild ihres Freundes schauend. Ihr Bruder überbrachte ihr die freudige Botschaft des Meisters.
Reva war überglücklich, als sie die Botschaft des Meisters von Gokul vernahm. Sie sagte ihrem Bruder: „Ich sage dir, an dem Tag, an dem wir heiraten, werde ich deinem Meister zehntausend Dollar geben. Obwohl er dir gesagt hat, dass er nichts mit unserer Heirat zu tun hat und keine spirituelle Kraft anwenden wird, um unsere Heirat herbeizuführen, so sagt mir mein Gefühl im Herzen, dass er zweifellos etwas tun wird. Ich glaube nicht, dass ich sonst je diesen Freund als zukünftigen Gatten erhalten würde.“
Gokul sagte: „Reva, ich kann dir nur eines sagen: die Voraussage meines Meisters kann nie falsch sein.“
Reva sagte: „Ich weiß, ich weiß, ich kann es fühlen.“
Als Gokul am folgenden Tag zum Ashram des Meisters ging, war sein Herz überglücklich, weil er dank der Gnade seines Meisters seine Schwester glücklich machen konnte. Doch als er dem Meister über das Versprechen seiner Schwester erzählte, bemerkte er zu seiner größten Überraschung, dass der Meister sehr traurig wurde. Er fragte seinen Meister, warum er so traurig und deprimiert sei.
Sein Meister antwortete: „Ich werde zwar zweifellos das Geld deiner Schwester erhalten, doch ich werde dich dabei verlieren.“
Gokul war zutiefst getroffen durch diese düstere Voraussage seines Meisters. „Wie kann das sein? Ich werde dich nie aus eigenem Antrieb verlassen, Meister und ich hoffe, du wirst mich nie bitten, dich zu verlassen.“
Der Meister sagte: „Ich sehe, dass es vorausbestimmt ist. Doch vergessen wir es für den Augeblick. Ich möchte nicht jetzt an meinem zukünftigen Verlust leiden. Alles ist vorausbestimmt – was kann ich tun?“
„Meister, ich bin sicher, du machst einen Spaß mit mir. Das kann nie wahr sein.“ Der Meister schenkte ihm ein breites Lächeln.
„Ich wusste es, ich wusste es“, sagte Gokul zum Meister, „du hast nur Spaß mit mir gemacht.“
Sieben Monate später heirateten Reva und der Professor. Reva vergaß nicht, ihr Versprechen an ihren Bruder zu erfüllen. Sie hatte ihrem Mann bereits viele, außerordentliche Dinge über den spirituellen Meister ihres Bruders erzählt. Nach der Hochzeit sagte der Professor zu seiner Frau: „Wer weiß, vielleicht werden wir uns beide eines Tages für das spirituelle Leben interessieren. Gegenwärtig sind wir dafür nicht bereit, doch auch ich habe das starke Gefühl, dass der Meister deines Bruders für unsere Heirat verantwortlich ist. Ich kann dir offen sagen, dass ich, nachdem der Meister deinem Bruder über unsere Zukunft erzählt hatte, eine besondere Art von Liebe für dich entwickelt habe. Langsam, langsam entwickelte sich meine Liebe für dich in einem solchen Maße, dass ich alle meine anderen Freundinnen beiseite ließ. Nun sind wir eins geworden, untrennbar eins. Ich bin sicher, das ist alles sein Werk. Ich bin diesem spirituellen Meister zutiefst dankbar.“
Reva war vor Freude überwältigt und sagte ihrem Mann: „Lass uns mein Versprechen an diesen spirituellen Meister halten.“
Der Professor sagte: „Natürlich. Heute haben wir geheiratet; ich werde das Geld holen und dann werden wir es deinem Bruder geben, damit er es seinem Meister überbringen kann. Benutzen wir diese Gelegenheit, um diese zehntausend Dollar zu Gokuls Meister zu bringen und dein Versprechen zu erfüllen.“
Sie übergaben das Geld Gokul. Doch ach, ein ungöttlicher Gedanke drang in seinen Verstand ein. Die Versuchung überwältigte ihn. Er hatte noch nie in seinem Leben zehntausend Dollar in bar gesehen. Er sagte zu sich: „Der Meister hat es mir gegenüber sehr klar ausgedrückt, dass er mit dieser Heirat nichts zu tun hat. Es war eine reine Voraussage; deshalb verdient er dieses Geld nicht. Ich brauche jedoch dringend Geld. Ich werde ihm fünftausend Dollar geben und die anderen fünftausend werde ich für mich behalten. Denn schließlich war ich es, der ihm über meine Schwester erzählt hat. Ohne mich hätte er meine Schwester nie kennen gelernt. Die Prophezeiung wäre nie zustande gekommen und er hätte die zehntausend Dollar von meiner Schwester und ihrem Mann nie erhalten. Ich habe einen guten Plan. Ich gehe mit diesem Geld in ein Land weit weg und eröffne ein lukratives Geschäft. Nach einigen Jahren gebe ich meinem Meister nicht zehntausend Dollar, sondern einhunderttausend Dollar. Wenn ich dies nun dem Meister sage, wird er natürlich nicht in meinen Plan einwilligen; deshalb gehe ich am besten einfach weg, ohne ihn überhaupt zu treffen.“
Gokul entschied sich, sofort zu verreisen. Er flüchtete in ein Land Tausende von Kilometern weg von seinem Heim, um dem Meister, seiner Schwester und ihrem Mann zu entfliehen.
Der Meister hatte von Gokul selbst erfahren, an welchem Tag seine Schwester heiraten würde. Obwohl der Meister mit seiner okkulten Schau sah, dass es für Gokul ein schicksalsschwerer, wenn nicht fataler Tag war, erwartete er, dass Gokul zu ihm käme, um ihm zumindest ein paar gute Nachrichten zu überbringen. Er hatte ihn bereits gewarnt: „Um der Schwester einen Gefallen zu tun, verliere ich den Bruder.“
Am selben Tage hatte jedoch der Professor eine besondere Erfahrung. Am Abend seines Hochzeitstages wollte der Name des Meisters nicht mehr von ihm weichen. Es war ein süßes Gefühl in ihm, für das er keine Erklärung geben konnte. Es war ihm ohne jeden Zweifel klar, dass er inneren Frieden und Licht fühlte. Am folgenden Tag sagte er zu seiner Frau: „Reva, ich muss heute Gokuls spirituellen Meister besuchen gehen. Ich erhalte soviel innere Freude und inneren Frieden. Ich bin sicher, es kommt alles von ihm. Ich möchte hingehen und ihm persönlich die tiefste Dankbarkeit meines Herzens schenken.“
Reva sage: „Ich glaube dir, ich glaube dir. Ich möchte auch mit dir kommen.“
So gingen beide zusammen zum spirituellen Ashram des Meisters. Der Professor sagte zum Meister: „Verehrter Meister, als Zeichen unserer tiefsten Dankbarkeit sandte ich dir gestern ein kleines Geschenk durch Gokul. Heute sind wir gekommen, um dir für das, was du für uns getan hast, die tiefste Dankbarkeit unseres Herzens anzuerbieten.“
Der Meister sagte zu ihnen: „Gokul? Wo war Gokul gestern? Er kam nicht zu meinem Haus. Ich dachte, er sei bei eurer Hochzeit sehr beschäftigt und hätte keine Zeit gehabt.“
Reva und ihr Mann waren beide zutiefst erstaunt, dies zu hören. Sie konnten nicht glauben, dass Gokul so unaufrichtig war. „Gokul, mein Bruder Gokul ist mit unserem Geschenk nicht zu dir gekommen? Wir müssen ihn suchen!“ rief Reva.Der Meister sage: „Warte, Reva, lass mich konzentrieren. Ich werde meine okkulte Kraft gebrauchen und herausfinden, wo er ist.“ Der Meister konzentrierte sich einige Minuten lang und sagte dann: „Ach, ach, er befindet sich in diesem Augenblick auf dem Weg nach Indien. In ein paar Stunden wird er in Indien ankommen. Er hat das Gefühl, ich verdiene dieses Geld nicht, weil ich nichts für euch getan hätte; ich hätte ja nur eine Voraussage gemacht. Er hat das Gefühl, er selbst verdiene das Geld, weil er mir über deine Probleme erzählt hat und mich in die Lage versetzt hat, diese Voraussage zu machen. Er rechtfertigt sein Benehmen dadurch, dass er sich sagt, ich werde ihm in späteren Jahren viel dankbarer sein, wenn er mir von seinem Geschäft in Indien viel mehr als zehntausend Dollar überbringen wird.“
Der Professor und seine Frau konnten ihren Ohren kaum glauben. Doch gleichzeitig konnten sie auch am spirituellen Meister nicht zweifeln. Einige der Schüler, die zugegen waren und dieser erstaunlichen Geschichte zuhörten sagten: „Bist du sicher, Meister? Das ist ganz und gar nicht Gokuls Art.“
Der Meister wurde wütend und sagte: „Ihr Taugenichtse! Ihr seid bereits seit vielen Jahren bei mir, einige von euch sind zehn Jahre bei mir und zweifeln immer noch an mir. Schaut hingegen auf diese Neulinge! Sie haben unseren Weg nicht einmal angenommen, sie sind heute zum ersten Mal gekommen. Schaut, wie selbstverständlich sie mir geglaubt haben. Wie aufrichtig sie mir geglaubt haben. Ich kann euch sagen, es hängt nicht davon ab, wie viele Jahre ihr bei mir seid oder wie spirituell entwickelt und reif ihr seid. Jeden Augenblick kann euch die Versuchung packen. Seht nur Gokul. Er hat mich verlassen. Die Macht des Geldes, die Macht der Versuchung hat ihn von mir weggerissen. Und was euch Toren betrifft – euer fehlender Glaube wird auch euch bald wegreißen.“
Alle protestierten heftig: „Nie, nie, nie, Meister!“
„Ihr wisst genau, was ich Gokul gesagt habe – dass ich ihn verlieren würde, wenn der schicksalsträchtige Tag kommen würde. Und nun seht ihr, dass ich ihn wirklich verloren habe. Genauso werde ich auch euch verlieren. Doch ich bin nicht der wirkliche Verlierer. Ihr werdet die wirklichen Verlierer sein, genau wie Gokul. Ich weiß, wer ich bin.“
Reva und ihr Mann fielen zu Füßen des Meisters und sagten: „Meister, Meister morgen werden wir dir noch einmal zehntausend Dollar bringen. Und wenn es dein Wille ist, dass wir versuchen Gokul zurück zu bringen, werden wir unser Bestes versuchen. Wenn wir Erfolg haben und ihn finden, wird alles Geld dir gehören, das er noch nicht ausgegeben hat.“
Der Meister entgegnete: „Das ist unmöglich; ihr werdet Gokul nie wieder zurückbringen können. Gokul wird nicht aus eigenem Antrieb zurückkommen und ich möchte auch nicht, dass er in irgendeinem Fall zurückkommt. Es wird euch nicht gelingen, ihn zurück zu bringen und ich werde nicht in der Lage sein, ihn wieder annehmen zu können. Ihr könnt weiter nichts tun. Dieses Kapitel seines Lebens ist vorbei. Ich möchte nicht einmal, dass ihr nach ihm sucht – es ist eine traurige Geschichte.
Doch ich bin sehr glücklich über euch beide. Ihr werdet in eurem Eheleben beide glücklich sein. Ich weiß, dass ihr zwei unseren Weg annehmen werdet und ich versichere euch, dass ich euch nicht wegen eurem Geld annehmen werde, sondern wegen eurem inneren Streben und inneren Glaubens. Sogar bevor ihr meinen Weg angenommen habt, habt ihr so aufrichtig an mein inneres Wissen geglaubt. Als ich Reva sagte, dass ihr zwei heiraten würdet, hat sie mir völlig geglaubt und noch vor ein paar Minuten, als ich euch vor allen meinen Schülern über Gokul erzählte, seid ihr beiden die Einzigen gewesen, die mir geglaubt haben. Schaut diese nutzlosen Leute an! Und einige von ihnen sind bereits sieben Jahre oder zehn Jahre mit mir zusammen. Ach, ach, dies ist mein Schicksal. Dankbarkeit erhalte ich, wenn ich sie nicht verdiene und Undankbarkeit erhalte ich, wenn ich sie nicht verdiene. Zumindest halten sich die beiden so ziemlich die Waage.
23. September 1974From:Sri Chinmoy,Dankbarkeits-Himmel und Undankbarkeits-Meer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2006
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/gsi