Diese Revolutionäre hatten ziemlich viele Anführer, aber ihr Oberhaupt war Surjya Sen. Alle liebten ihn und brachte ihm Bewunderung und Verehrung entgegen. Die ganze Stadt Chittagong liebte ihn rückhaltlos. Schon allein sein Name gab ihnen enorme Freude und Mut. In früheren Jahre war er als Lehrer tätig, gab aber das Unterrichten auf und schloss sich der Revolution an. In den Wirren der Revolution war Surjya Sen der bedeutendste Führer.
Surjya Sen war zufällig ein entfernter Verwandter aus der Verwandtschaft der jüngsten Schwester meiner Mutter. Er kam einige Male in das Haus der Schwester meiner Mutter, um sich zu verstecken. Als ich das letzte Mal in Indien war, ging ich sie besuchen. Sie verließ Mutter Erde im reifen Alter von 103 Jahren.
Die britische Regierung war stets auf der Suche nach Surjya Sen. Sie wollten ihn festnehmen und töten. Aber er ging heimlich von Dorf zu Dorf und instruierte seine Leute, was sie tun sollten. Diese Revolutionäre taten viele, viele heldenhafte Dinge. Aus den britischen Waffenlagern stahlen sie Waffen, um gegen die Briten zu kämpfen. Es ist eine lange Geschichte. Sie waren außerordentlich stark und außerordentlich mutig. Ihre Liebe zu Mutter Indien war ohnegleichen, und ihre Taten standen an der Spitze der Opfer der Revolutionäre.
Sie nannten Surjya Sen für gewöhnlich Mashtar-da – Mashtar bedeutet ‚Lehrer’ und – da steht für liebevollen Respekt gegenüber den älteren Brüdern in einer Familie und auch für die Älteren allgemein. Alle kannten Mashtar-da. Selbst West-Bengalis kannten ihn sehr gut.
Die britische Regierung bot jedem, der ihr Informationen liefern würde, die zur Festnahme Mashtar-da führen würden, eine Belohnung in Höhe von 50 000 Pfund an. Er hatte einen Verwandten namens Netra Sen. Dieser Netra Sen war ebenfalls Revolutionär unter Surjya Sen. Als Netra Sen hörte, dass er 50 000 Pfund bekommen könnte, befiel ihn eine gewaltige Gier. Neben anderen Revolutionären wusste auch Netra Sen, wo sich Surjya Sen versteckt hielt.
Judas ist leider überall. Für 30 Silberlinge verriet Judas Jesus und sagte der Obrigkeit, wo sie Jesus finden würde. Dann gaben sie ihm das Geld. Nachdem Jesus gefangen genommen und gekreuzigt worden war, beging Judas Selbstmord.
Netra Sen sagte der britischen Regierung, wo man Surjya Sen finden würde, und der größte aller Anführer wurde verhaftet. Wo sollte man ihn aufgreifen? In Netra Sens eigenem Haus! Weil sie sich so nahe standen hatte Netra Sen Surjya Sen eingeladen, zu kommen und mit ihm zu essen. Kann man sich so etwas vorstellen? Sie wohnten lediglich drei oder vier Meilen voneinander entfernt.
Die britischen Soldaten kamen, als Netra Sens Frau gerade das Essen servierte. Auch die Frau war Revolutionärin, und sie war äußerst, äußerst angetan von Surjya Sen. Alle Männer und Frauen liebten und schätzten Mashtar-da aus tiefstem Herzen. Er war ihr Held ohnegleichen.
Surjya Sen und Netra Sen waren beide am Essen. Die Frau servierte den beiden das Essen und wusste nichts vom Verrat ihres Mannes. Die britischen Soldaten wussten, dass es leicht sein würde, Surjya Sen festzunehmen, während er am Essen war. Daher wählten sie diesen Zeitpunkt aus, um ins Haus zu kommen und ihn zu verhaften. Sie warfen ihn ins Gefängnis in Chittagong. Noch bevor Surjya Sen eingesperrt wurde, gaben sie Netra Sen sein Geld.
Die Frau war wutentbrannt. Sie weinte und schrie. Andere Revolutionäre kamen zu ihrem Haus, und sie verfluchten ihren Ehemann. Sie wussten, dass Netra Sen Mashtar-da verraten hatte. Die Frau sagte zu ihren gemeinsamen Freunden, die alle Revolutionäre waren: „Bitte, bitte tut mir einen großen Gefallen.“
„Was für einen Gefallen?“ fragten sie.
„Ich sage euch, ihr müsst mir diesen Gefallen tun!“
„Wir werden dir jeden Gefallen tun, um den du uns bittest“, antworteten die Freunde.
„Gerade haben wir Mashtar-da verloren. Dennoch möchte ich meinen Ehemann bestrafen.“ Sie fügt hinzu: „Sagt mir, wer wird mir meinen einzigen Wunsch erfüllen?“
Sie sagten: „Was immer du auch sagst, wir werden es froh und sofort tun.“
Die Frau sagte: „Ich möchte, dass mein Mann getötet wird, während ich ihm Essen bringe. Ich werde euch sagen, zu welcher Zeit wir abends essen. Wenn ihr wirklich euer Vaterland liebt, dann möchte ich, dass einer von euch meinem Mann die Kehle durchschneidet, während ich ihm das Essen bringe.“
„Wirst du da nicht traurig und unglücklich sein? Dein eigener Mann wird vor deinen Augen getötet werden!“
„Nein! Nein! Unser Mashter-da wurde eingesperrt, weil mein Mann das Geld wollte. Ich weiß noch nicht einmal, wo er es versteckt hat. Selbst wenn ich das Geld in meinem Haus finden würde, würde ich es nur wegwerfen.“
Alle Revolutionäre waren Mashtar-da äußerst ergeben. Diejenigen, die Netra Sens Frau zuhörten, waren angewidert und traurig, weil Surjya Sen von Netra Sen, ihrem Ehemann, verraten worden war. Die Briten hatten sogar schon ein Datum festgelegt, an dem er gehängt werden sollte. Zuerst würde es eine Gerichtsverhandlung und andere Verfahren geben. Surjya Sen selbst war völlig schockiert, als er hörte, was Netra Sen getan hatte.
„Ich möchte nicht mit meinem Mann zusammen leben“, rief die Frau aus. „Ich möchte ihn noch nicht einmal sehen! Mein Mann war ein Revolutionär! Jetzt lässt er alle Revolutionäre in einem schlechten Licht da stehen. An allem ist das Geld schuld.“
Sie bat die Revolutionäre, ihren Mann zu töten. Sie sagte, dass sie ihrem Mann nicht erzählen würde, was ihm zustoßen werde.
Innerhalb weniger Tage kam einer der Revolutionäre und schnitt Netra Sen die Kehle durch, als Netra Sens Frau ihm das Abendessen brachte und er am Essen war. Er starb sofort. Auf das Verlangen seiner eigenen Frau hin fiel Netra Sen dem Attentat einer der Revolutionäre zum Opfer!
Als die Polizei gekommen war, verlangte sie, dass Netra Sens Frau ihnen den Namen desjenigen verraten solle, der ihren Mann umgebracht hatte. „Du musst es uns sagen!“ sagten sie.
Sie antwortete: „Nein! Ihr könnt mich töten. Ich werde es euch nicht sagen. Ich weiß, wer der Betreffende ist. Ich weiß es, ich weiß es. Aber ich werde es euch nicht sagen. Wenn ihr mich verhaften wollt, verhaftet mich. Wenn ihr mich töten wollt, tötet mich. Ich bin bereit. Ich kann keinen Mann haben, der unseren geliebten Mashter-da verraten hat.“
Die Polizei konnte nichts tun. Die Frau trauerte in keinster Weise um ihren Ehemann. Als Mashtar-da verhaftet wurde, weinte sie bitterlich und war vom Kummer überwältigt. Sie sagte wieder und wieder: „Wie konnte das mein Ehemann unserem größten Helden, unserem geliebten Anführer, Mashtar-da, antun!“
Die Polizei verlangte: „Du musst es uns sagen!“
Als die Polizei forderte: „Du musst es uns sagen“, sagte sie: „Nein! Tut, was ihr wollt. Ich werde euch den Namen des Betreffenden nicht verraten. Ich kenne den Betreffenden sehr gut, da ich selbst den Wunsch ausgesprochen habe.“
Diese Geschichte ist zu hundert Prozent authentisch. Die Frau lebte noch viele weitere Jahre und diente den Revolutionären überaus ergeben und überaus treu. Frauen wie Netra Sens Ehefrau gingen noch nicht einmal aus ihren Häusern hinaus, und doch leisteten sie solch bedeutende Beiträge zur Revolution!
Dieser Vorfall ereignete sich 1932, als ich ein Jahr alt war. Er zeigt, wie groß die Liebe Einzelner zu ihrem Vaterland sein kann. Sie standen für Indiens Freiheit und Unabhängigkeit auf. Wie andere Gegenden in Indien revoltierte auch Chittagong, und Chittagongs größter Führer war Surjya Sen.
Am 12. Januar 1934 wurde Surjya Sen vor Sonnenaufgang gehängt. Am Abend, bevor er gehängt wurde, sandte er seinen Anhängern aus dem Gefängnis in Chittagong eine Abschiedsbotschaft. Er schrieb:
„Das Seil hängt über meinem Kopf. Der Tod klopft an meiner Tür. Was soll ich euch in einem so ernsten Augenblick hinterlassen? Nur eines – das ist mein Traum, ein goldener Traum – ein Traum von einem freien Indien. Wenn ihr sterbt, bevor das Ziel erreicht ist, dann übergebt euren Anhängern die Verantwortung für euer Bestreben, so wie ich es heute tue. Vorwärts, meine Kameraden, vorwärts – weicht niemals zurück. Der Tag der Unterdrückung verschwindet und die Dämmerung der Freiheit wird einsetzen. Tut etwas. Seid niemals enttäuscht. Der Erfolg ist sicher. Gott segne euch.“
Netra Sens Frau ging zu dem Platz, auf dem Surjya Sen gehängt werden sollte. Kurz bevor er starb, segnete Surjya Sen sie und sagte: „Ich bin nicht der Held. Du bist die Heldin. Ich bin nicht der wahre Führer. Du bist die wahre Führerin. Die Opfer, die du für Mutter Indien gebracht hast, haben dich zur wahren Anführerin im Kampf Chittagongs um unsere Freiheit gemacht.“
Als er starb, sagte Surjya Sen nur wieder und wieder: „Bande Mataram! Bande Mataram! Bande Mataram!“ Mutter, ich verbeuge mich vor Dir.......
Überall um ihn herum vergossen die Leute Tränen. Surjya Sen fragte: „Warum, warum, warum? Warum tut ihr das? Ich verbeuge mich vor meiner Mutter. Wenn sie euch einsperren, möchte ich, dass ihr alle sagt: ‚Mutter, Mutter, Mutter – für Dich, für Mutter Indien, für Chittagong umarme ich den Tod.’ Indem ich die Mutter anrufe, umarme ich den Tod. Wirklich, es gibt keinen Tod für einen Revolutionär. Meine Liebe zu meinem Vaterland ist unendlich stärker als der Tod. Janani Janma Bhoomischa Swargaadapi Garyasi.“ Mutter und Mutterland sind selbst dem Himmel übergeordnet.
Einmal mehr noch sang er: „Bande Mataram! Bande Mataram! Bande Mataram!“ Dann verschwand er hinter dem Vorhang der Ewigkeit, um in die Galaxy der Unsterblichen einzutreten.From:Sri Chinmoy,Der Verstandes-Dschungel und der Herzens-Garten des Lebens, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2019
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/mjh