Es gab einmal einen großen Yogi. Dieser bestimmte Yogi besaß die Fähigkeit, im Himmel zu fliegen, auf dem Wasser zu laufen und so gut wie ohne Nahrung zu leben. Jeden Tag ging er um Essen bettelnd von Tür zu Tür. Wenn er bemerkte, dass er für den jeweiligen Tag genug Nahrung hatte, hörte er mit dem Betteln auf. So ging es jahrelang. Zu dieser Zeit kümmerte er sich nicht darum, Schüler anzunehmen.
Eines Tages kam er, um Essen bittend, an das Haus einer reichen Familie. Er wusste nicht im geringsten, ob die Besitzer des Hauses reich oder arm waren. Die Dame des Hauses gab ihm ausgezeichnetes Essen, welches sie selbst zubereitet hatte.
Er bemerkte, dass die Dame sehr traurig und depressiv war und so fragte er: „Mutter, warum bist du heute so traurig?“
Sie antwortete: „Ich bin nicht nur heute traurig. Ich bin bereits seit langer langer Zeit traurig.
„Warum?“, fragte der Yogi.
Die Dame erzählte ihm: „Ich bin nicht mit Kindern gesegnet, und ich hätte gerne zumindest ein Kind.“
Er sagte: „Das ist eine sehr einfache Sache.“
„Einfach?“, fragte die Dame.
„Ja“, antwortete der Yogi. Ich werde dir eine kleine Menge Asche geben. Diese sollst du einnehmen, und nach einer gewissen Zeit wirst du ein Kind bekommen.“
Die Dame war zutiefst beeindruckt. Nachdem der Yogi ihr Essen genommen hatte und gegangen war, ging sie zu ihren Nachbarn und erzählte ihnen, was der Yogi gesagt hatte.
All ihre Freunde lachten sie aus, und sagten zu ihr: „Diese Yogis sind nichts anderes als Gauner. Wie kannst du diesem Mann trauen?“
Die Nachbarn überschütteten sie mit Zweifeln und sie verlor das Vertrauen in den Yogi. Nun, anstatt die Asche einzunehmen, schüttete sie diese auf einen großen Heuhaufen. Nach zwölf Jahren kam derselbe Yogi zu dem eben erwähnten Haus zurück und bat nochmals um Essen. Als dieselbe Dame kam, um ihm Essen zu geben, sagte er zu ihr: „Mutter, wie geht es deinem Kind?“
Sie erwiderte: „Mein Kind? Wann habe ich ein Kind gehabt?“
Er sagte: „Du wolltest ein Kind haben, und ich gab dir Asche, die du einnehmen solltest.“
Die Dame erklärte: „Ach, meine Nachbarn sagten, dass ihr Yogis alle Gauner seid, daraufhin habe ich die Asche nicht eingenommen.“
Der Yogi begann zu lachen: „Was hast du mit der Asche gemacht?“
„Ich habe sie weggeschüttet.“ Dann zeigte sie ihm den großen Heuhafen, auf den sie die Asche geschüttet hatte. Der Yogi ging dorthin und hob ihn hoch. Unterhalb des Heus, saß ein wunderschöner zwölf Jahre alter Junge in einer meditativen Stellung. Er meditierte und atmete ganz normal.
Die dumme Frau wollte den Jungen für sich behalten, aber der Yogi sagte: „Nein!“ Der kleine Junge folgte dem Yogi und lebte fortan bei ihm.
Der Yogi schulte den Jungen im spirituellen Leben. Als der Junge noch in zartem Alter war, war der Meister in der Lage ihm okkulte und spirituelle Kräfte zu geben. Der Meister war mit dem Jungen sehr zufrieden, aber er wollte sehen, wie viel Hingabe und Gehorsam der Junge besaß. Wenn man reine Hingabe besitzt, dann ist Gehorsam so einfach, wie das Trinken eines Glases Wasser. Aber wenn es an Hingabe mangelt, ist es äußerst schwer, Gehorsam aufzubringen.
Eines Tages nahm der Meister seinen jungen Schüler mit, um für Essen zu betteln. An einem Haus gab die Familie ein Fest, und sie hatten ein äußerst wohlschmeckendes Essen zubereitet. Hunderte von Leuten waren beim Festmahl. Der Meister und der Schüler waren sehr hungrig und aßen die Speisen gierig auf. Sie waren mit dem Essen sehr sehr zufrieden.
Am folgenden Tag schickte der Meister den Jungen zum selben Haus und sagte ihm: „Geh und bring von der Familie das gleiche Essen, wie sie es uns gestern gegeben haben; es muss sehr wohlschmeckend sein.“
Der junge Mann ging zu dem Haus und sagte der Dame: „Bitte, mein Meister hat mich gesandt, das gleiche Essen wie gestern zu holen. Es muss äußerst wohlschmeckend sein.“Die Dame sagte: „Wie kannst du das gleiche Essen erwarten? Gestern hatten wir hier ein Fest. Heute gibt es nichts. Niemand ist hier. Siehst du das nicht? Für das gestrige Mahl hatten wir einen Koch engagiert; deshalb ist es so gut gewesen. Heute wird es meine Zubereitung sein, und ich bin nicht ans Kochen gewöhnt. Ich habe so viele Angestellte und Diener, die das machen. Wie kannst du von mir erwarten, dass ich das gleiche Essen mache wie gestern?“
Er sagte: „Mein Meister hat mich gesandt, um sehr wohlschmeckendes Essen von dir zu holen. Ich habe es zu holen.“
Sie sagte: „Wie kannst du deinem Meister gehorchen? Es ist unmöglich; du kannst das nicht tun.“
Der Junge sagte: „Ich gehe nicht weg von diesem Haus, bis du mir nicht dieses wohlschmeckende Essen gegeben hast. Es ist der Befehl meines Meisters.“
Die Dame sagte: „Hörst du wirklich auf diesen dummen Meister, wenn er dich bittet etwas zu tun, das unmöglich ist?“
„Da gibt es nichts, das unmöglich ist“, erwiderte der Junge. „Wenn mein Meister mir befiehlt etwas zu tun, werde ich in der Lage sein es zu tun.“
Letztendlich sagte die Dame: „In Ordnung, ich bin bereit den Koch herbeizuholen, den ich gestern engagiert hatte und dir das gleiche wohlschmeckende Essen für deinen Meister zu geben, aber nur wenn du etwas Unmögliches tust.“
Er sagte: „Was ist unmöglich?“
Sie sagte: „Ich möchte, dass du dir vor mir dein Auge herausnimmst.“
Der Junge sagte: „Oh, das ist sehr einfach.“
Der Junge legte seine Finger um seinen Augapfel und begann ihn herauszureißen. Sofort strömte Blut aus seinem Auge.
Die Frau schrie: „Aufhören, aufhören, aufhören! Ich kann dich das nicht tun lassen.“
Dann ließ sie sogleich nach dem Koch schicken und sagte: „Der Koch wird das gleiche Essen wie gestern bereiten.“
Der junge Mann wartete, während das Essen zubereitet wurde. Es war sehr wohlschmeckend. Er brachte seinem Meister das Essen und dieser aß wieder sehr gierig. Dann fragte der Meister ihn: „Was ist mit deinem Auge passiert? Warum blutet es?“
Der Junge erzählte seinem Meister die ganze Geschichte: „Die Dame sagte, sie würde mir nicht eher das Essen geben, bis ich ihr nicht mein Auge gegeben hätte. Ich wollte es für sie herausnehmen, aber sie hielt mich zurück.“
Der Meister sagte: „Mein Kind, das nenne ich Gehorsam! Das nenne ich Hingabe! Das nenne ich Liebe für mich! Ich wollte, dass du beweist, dass du solche Liebe, solche Ergebenheit und solche Hingabe besitzt.“
Dieser bestimmte junge Mann wurde schließlich selbst ein großer Yogi und er war mit allen möglichen okkulten und spirituellen Kräften ausgestattet.
Dieser bestimmte Yogi war zwar in Bengalen geboren, doch in Nepal wurde er sehr bekannt.
Mehrere Tempel in Nepal sind ihm gewidmet. Sein Name war Gorakshanath und der Name seines Meisters war Matsyendranath.From:Sri Chinmoy,Gehorsam – Herzensduft, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/ohf