Ein Lehrer oder Guru lehrte sowohl religiöses wie auch gewöhnliches Wissen im alten Indien. In Indien wird sogar ein Schullehrer als Guru bezeichnet. Am Morgen gingen etwa fünfzehn bis zwanzig kleine Jungen zur Schule ihres Lehrers um zu lernen und zu spielen, und am späten Nachmittag gingen sie wieder nach Hause.
Eines Tages bat der Lehrer einen bestimmten Jungen, etwas zu tun. Was war es? Während die Schüler spielten, rief der Lehrer den kleinen Jungen zu sich und sagte zu ihm: „Wirf mein Kind in den Brunnen“. Das Kind des Lehrers war erst fünf oder sechs Jahre alt, aber der Schüler zögerte nicht, nicht einen flüchtigen Augenblick. Er packte das Kind und warf es in den nahe gelegenen Brunnen. Die anderen Schüler bemerkten es und kamen herbeigerannt. Zwei oder drei kletterten in den Brunnen und brachten das Kind wieder heraus, und andere Studenten schlugen den bestimmten Schüler, der das Kind in den Brunnen geworfen hatte. Der Schüler sagte kein Wort. In der Zwischenzeit beobachtete der Lehrer die ganze Situation. Auch er sagte nichts dazu.
Ein paar Monate später, während die Schüler spielten, rief der Lehrer denselben Jungen zu sich und sagte zu ihm: „Zünde mein Haus an“. Wieder zögerte der Junge nicht eine Sekunde lang. Er setzte sofort das Haus seines Gurus in Brand. Die Frau des Gurus befand sich im Haus, sie schrie und rief um Hilfe. Dann, wie bereits zuvor, wurde dieser Junge von den restlichen Schülern erbarmungslos geschlagen. Sie sagten: „Wie konntest du es wagen, das Haus unseres Gurus in Brand zu setzen?“ Wieder sagte der Junge kein Wort. Er erzählte nicht, dass sein Guru ihn darum gebeten hatte. Auch der Lehrer schwieg und sagte nichts. Die anderen Schüler konnten es nicht fassen: wie konnte der Lehrer so gleichgültig sein?
Während die Tage in Wochen, die Wochen in Monate und die Monate in Jahre gingen, kam eine Zeit, in der die Schüler erwachsen wurden und ihren eigenen Lebensweg betraten. Zu dem Zeitpunkt war der Lehrer schon sehr, sehr alt. Daher lud er alle seine unterschiedlichen Schüler aus den vergangenen und gegenwärtigen Lehrjahren ein, ihn zu besuchen. Alle kamen, und der Lehrer begann, ihnen segensvoll einige materielle Gegenstände zu geben, wie z.B. Grundstücke und andere Dinge. Was auch immer er hatte, er wollte es an seine Schüler weitergeben. Sie waren alle sehr glücklich. Dann bemerkten sie, dass aus irgendeinem Grund dieser bestimmte Schüler nichts erhalten hatte, vielleicht weil der Guru das Gefühl hatte, dass er kein guter Schüler war. Die anderen fragten sich, warum der Guru ihm nichts gegeben hatte.
Endlich sagte der Lehrer zu dem Jungen: „Ich habe dir auf der materiellen Ebene nichts zu geben, das deinem Gehorsam entspricht. Ich habe noch nie jemanden gesehen und werde auch nie jemanden sehen, der seinem Lehrer gegenüber so ergeben ist. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so gehorsam ist wie du, und was ich auf der materiellen Ebene gebe, wird nicht deinem Gehorsam entsprechen.“
Schließlich sagte der Lehrer zu dem Jungen: „Ich gebe dir einen Segen. Der Segen ist folgender: In einigen Jahren wird der Höchste Herr selbst als dein Schüler zu dir kommen. Lord Krishna wird kommen und dein Schüler sein. Das ist das größte Geschenk, das ich dir machen kann. Ich bin der glücklichste Mensch, dir zu sagen, dass der Höchste Herr selbst kommen und mit dir lernen wird.“ Der Name dieses besonderen Schülers war Sandip Muni. Er wurde der Guru von Sri Krishna. Er zeigte diese Art von Gehorsam, um die Wünsche seines Lehrers zu erfüllen.From:Sri Chinmoy,Die Kraft der Güte und andere Geschichten, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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