Russell Wilson: Guruji, ich habe eine sehr schwierige Frage an Sie. Warum gibt es in Indien, von dem manche annehmen, dass es das Zentrum aller Religionen ist und wo die Spiritualität solch eine große Bedeutung hat, so viel Streit und Spannungen?

Sri Chinmoy: Ich kann diese Frage beantworten, weil ich selbst Inder bin. Vor langer Zeit war Indien ein Land des Friedens. Nun stehen Streit und Kampf auf der Tagesordnung. Warum? Die Antwort ist sehr einfach. Gott gewährt uns Freiheiten und wir missbrauchen sie. Wir Menschen können jeden Augenblick wählen, das Richtige oder das Falsche zu tun. Ich kann früh am Morgen aufstehen und beten und meditieren, damit ich ein guter Mensch werde; oder ich kann bis zehn oder elf Uhr schlafen und dann aufstehen, wenn es sogar für die Arbeit zu spät geworden ist. Angenommen, ich habe sechs Monate lang das Licht vom Himmel empfangen und meine Aufrichtigkeit, meine Integrität und meine Liebe zu Gott drängten mich, früh morgens aufzustehen und zu meditieren. Doch wenn ich nach sechs Monaten aufhöre strebsam zu sein und an Gott zu denken und deswegen früh morgens nicht mehr aufstehe, bleibe ich äußerlich dieselbe Person, doch mein inneres Leben hat sich verändert.

Früher in der ehrwürdigen Vergangenheit pfleg­ten die Landesführer zu spirituellen Meistern zu gehen, um Segen und Erleuchtung zu erhalten. Einer der größten Helden Indiens, Shivaji, besuchte regelmäßig seinen spirituellen Meister und fragte ihn um Rat. Irgendwann hatte Shivaji dann von der Politik und seinem Land genug. Er sagte: „Alles ist Korruption. Ich will das nicht länger erdulden.“ Doch sein spiritueller Lehrer zwang ihn, in der Politik zu bleiben. Er sagte: „Wenn du aufgibst, wer wird dann diese Welt transformieren? Behalte deinen Posten, aber denke nur an mich. Der Höchste in mir wird das Land in dir und durch dich führen.“

Es gab eine Zeit, in der Indien Ausgeglichenheit besaß und Frieden im Verstand. Doch damit war es nicht zufrieden. Es wollte mit Amerika wetteifern. Als Indien in die Welt des Wettkampfes eintrat, begann es unglücklicherweise seine Spiritualität zu verlieren. Auf deiner eigenen Höhe zu verweilen und dann das zu geben, was du hast und zu empfangen, was jemand anderer hat, ist eine Sache. Doch Indien wurde gierig und begann, sich mehr und mehr für den äußeren Reichtum zu interes­sieren, anstatt seine ursprüng­liche Reinheit und Göttlichkeit aufrecht zu erhalten. Es wollte so reich werden wie Amerika und legte kein Gewicht mehr auf seinen inneren Reichtum. Das war Indiens größter Fehler.

Wenn Gott mir etwas gibt, sollte ich das schätzen. Und wenn dann die richtige Stunde schlägt, wird Gott mir etwas anderes geben, weil Er mit mir zufrieden ist. Doch wenn ich das von Gott Gegebene zurückweise und immer etwas anderes haben will, dann werden mich meine guten Eigenschaften irgend­wann einmal verlassen, und ich werde zum Bettler werden. Indien hätte Gott dankbar sein sollen für alles, was er Indien gegeben hat. Anstatt den Westen zu imitieren, hätte es seine eigenen göttlichen Eigenschaften schätzen sollen. Doch meine Mutter Indien verlor etwas äußerst Wertvolles, als sie begann, sich mehr um den äußeren als um den inneren Reichtum zu bemühen.

Und etwas Ähnliches geschieht nun mit der früheren Sowjetunion. Präsident Gorbatschow ist dafür verantwortlich, dass das Bewusstsein der Sowjetunion erwacht ist. Nachdem er die Sowjets aufgeweckt hatte, sagte er: „Wir haben viele Jahre lang geschlafen und sind nun aufgewacht. Deshalb gehen wir langsam, aber beständig und unbeirrbar auf unser Ziel zu. Wenn dann die Zeit kommt und wir unsere Fähigkeit vergrößern, werden wir marschieren, und später werden wir laufen.“ Doch die Menschen hörten nicht auf ihn. Sie wurden sehr gierig und wollten dem Westen einfach ebenbürtig sein. Sie wollten gleich von Beginn an laufen, obwohl sie nicht die Fähigkeit dazu hatten. Und so wählten sie einen anderen Politiker, der sofortige Resultate versprach. Wir wollen alle sofortige Verwirklichung. Wir wollen alles in einem Augenblick erhalten – aufbereitet, wie einen löslichen Pulverkaffee.

Ein Kind benötigt eine gewisse Zeit, um laufen zu lernen. Wenn ich dem Kind sage, dass es genauso schnell laufen kann wie sein älterer Bruder, so wird das Kind ermutigt sein und es versuchen. Doch es wird sich leider nur seine Füße brechen. Eine Mutter wird ihrem Kind immer sagen: „Langsam, mein Kind, gehe langsam. Dein Bruder ist fünf Jahre alt und du bist gerade mal ein Jahr alt. Wie kannst du dann erwarten, genauso schnell zu sein wie dein Bruder?“

From:Sri Chinmoy,Sri Chinmoy antwortet, Teil 4, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/sca_4