Frage: Guru, bei dem Morgengebet, das wir täglich aufsagen sollen, heißt es: „Erblicke ich meines Meisters göttlich lächelnde Augen, erblüht die Hoffnung meiner Gottverwirklichung....“ Da ich keine Vorstellung von der Gottverwirklichung habe, fehlt mir der richtige Bezug zu diesem Abschnitt des Gebetes.

Sri Chinmoy: Eine visuelle Vorstellung bestimmter Dinge ist im spirituellen Leben nicht immer erforderlich. Wir haben Gott nicht gesehen, doch unsere Seele, wie auch unsere Eltern lehren uns von Kindheit an, dass Gott existiert. Wir wissen, Gott ist voll Freundlichkeit und Zuneigung und Er verkörpert jede göttliche Eigenschaft. Gott und Gottverwirklichung sind jeweils Teil des anderen. Sie sind wie die Blume und ihr Duft. Wenn Gott der Duft ist, ist Gottverwirklichung die Blume, ebenso umgekehrt. Wenn du sagst, du hättest keine Vorstellung von der Gottverwirklichung, werde ich dir sagen: „Du hast auch keine Vorstellung von Gott, wie kannst du also an Gott denken und Gott lieben; wie kannst du beten und meditieren? Doch du kannst Gott lieben und du tust es auch; du kannst beten und meditieren und du tust es auch, obwohl Gott für dich im Moment einfach nur eine vage Vorstellung ist.

Bevor wir einen Lernstoff durchnehmen, haben wir davon nicht die geringste Ahnung. Und genau diese Tatsache ist der Grund, warum wir ihn durchnehmen. Im Falle der Gottverwirklichung studieren wir diesen Gegenstand mit Hilfe unserer Gebete, Meditationen und anderer Disziplinen. Dieser Lernstoff weist den höchsten Schwierigkeitsgrad auf, doch jeder der aufrichtig, ja selbst der, der unaufrichtig betet und meditiert, studiert diesen Lernstoff der Gottverwirklichung. Um die Früchte eines äußeren Studiums zu ernten, zum Beispiel den Titel eines Magisters, benötigen wir einige Jahre. Schrittweise bewegen wir uns vom Kindergarten hin zur Universität. Auch im spirituellen Leben gibt es einen Anfang, dieser sind Gebet und Meditation. Später werden wir nach innen tauchen und die Kontemplation erlernen, und eines Tages werden wir unsere Reise beenden. Doch wenn wir unsere innere Reise beenden, entdecken wir zu unserer großen Überraschung, dass wir uns am Anfang einer weiteren Reise befinden. Das spirituelle Leben bietet uns immer wieder einen völlig neuen Beginn. Es ist, als ob man einen wunderschönen Garten entdecken würde. Wir fühlen, einen noch schöneren könne es nicht mehr geben. Doch Gott sagt: „Nein, es gibt noch einen viel schöneren Garten.“

Vor der Gottverwirklichung haben wir nur eine äußerst vage Vorstellung, wer und was Gott ist. Nur nach der Gottverwirklichung wird Gott für uns zu einer absolut lebendigen Realität. Ab diesem Zeitpunkt wird das universelle Bewusstsein zu unserem eigenen Bewusstsein; wir selbst werden zu einem Teil dieses universellen Bewusstseins. Sollten dann irgendwo im Universum Dinge geschehen, die wir in Erfahrung bringen wollten, stünde uns diese Möglichkeit offen. Es gibt noch unzählige andere Dinge, die eine gottverwirklichte Person ausführen kann, die jedoch die Fähigkeiten eines gewöhnlichen Menschen weit übersteigen. Bevor ich die Gottverwirklichung erlangt habe, konnte ich an einem Tag ungefähr fünf oder sechs Dinge erledigen. Nun vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht Tausende Dinge in der inneren Welt vollbringe. Das gilt für alle spirituellen Meister, die Gott verwirklicht haben. Sie können all diese Dinge vollbringen, weil sie nicht mit ihrem Verstand arbeiten. Mit unserem Verstand können wir nur ein Ding nach dem anderen erledigen. Der Verstand kann sehr schnell arbeiten; er kann ein, zwei, drei Dinge sehr schnell vollbringen. Doch er kann keine zwei Dinge zur selben Zeit erledigen, während eine gottverwirklichte Seele viele, viele Dinge simultan zu vollbringen vermag.

Gottverwirklichung bedeutet Einssein mit dem Willen Gottes. Bevor wir das spirituelle Leben annehmen, kümmern wir uns nicht um den Willen Gottes; wir machen das, wonach uns gerade der Sinn steht. Doch sobald wir ein spirituelles Leben beginnen, versuchen wir jeden Moment, Gottes Willen in Erfahrung zu bringen. Wenn wir die Spiritualität auszuüben beginnen, stellt sich Gott zwar nicht vor uns hin, um uns Seinen Willen mitzuteilen, aber in uns befindet sich immer jemand, der uns das Richtige rät und uns dazu anhält, das Richtige zu tun, und dieser jemand ist Gott. Während unserer Gebete und Meditationen teilt uns unsere Seele oder der Höchste mit, was getan werden soll. Wenn wir es ausführen, schreiten wir dem Licht entgegen; doch wenn wir nicht auf die Seele hören, wandeln wir weiter in der Dunkelheit.

Wenn dem Sucher das Glück geneigt ist, sendet Gott einen Repräsentanten, der Seinen Willen verkündet: einen spirituellen Meister. Doch selbst dann können beim Schüler noch immer Zweifel auftreten. Er könnte sich sagen: „Wenn Gott hier vor mir stehen würde, hätte Er vielleicht eine andere Botschaft für mich.“ Oder er könnte denken: „Dieser Meister stellt mich nicht zufrieden; er erfüllt nicht meinen Wunsch. Vielleicht hört Gott mein Gebet gar nicht und kennt meinen Wunsch nicht.“ Der Schüler kann sich selbst auf verschiedenste Weise an der Nase herumführen; z.B. wenn er auf ein Getrenntsein zwischen Gott und seinem Meister besteht und denkt, Gott befände sich an einem anderen Ort. Doch wenn der Schüler spirituelle Reife besitzt, wird er wissen, dass Gott und der Meister seine Wünsche kennen; und wenn sie diese nicht erfüllen, so nur aus dem einen Grund, da es nicht dem Willen Gottes entspricht.

Wenn die Strebsamkeit des Schülers sinkt und er innerlich oder äußerlich beginnt, falsche Dinge zu tun, denkt er vielleicht: „Oh, der Meister weiß nicht, was ich tue.“ Aber der Meister weiß es; nur spricht er nicht darüber. Wenn der Meister sieht, dass der Schüler sich schlecht benimmt und in der Dunkelheit wandelt, wird er letztlich zu einem stillen Zeugen; ganz still beobachtet er alles. Es ist wie mit unseren menschlichen Eltern. Sie sagen uns, dass wir richtig handeln sollen, doch wir hören sehr selten auf sie. Letztlich sagen sie nichts mehr und beobachten einfach nur.

Ich erzähle euch jetzt einen Vorfall, der sich heute Morgen um etwa 6 Uhr 40 ereignete. Fünf Schüler waren auf mich böse; ihre Namen will ich jetzt nicht nennen. Während ich mich vor dem Spiegel rasierte, erhielt ich in der inneren Welt heftige Schläge gegen meinen Kopf – einen nach dem anderen! Glücklicherweise habe ich mich beim Rasieren nicht geschnitten! Ich öffnete mein drittes Auge, um zu sehen, wer mich schlug. Die Verursacher mögen jetzt sagen: „Zu dieser Zeit habe ich geschlafen.“ Es stimmt, sie haben noch geschlafen, doch letzte Nacht waren sie derart aggressiv oder unzufrieden mit mir, dass einige schlechte Kräfte über sie in mich eingedrungen sind und mir diese Schläge versetzt haben.

Durch diese Art von Erfahrungen müssen fast alle spirituellen Meister gehen. Wir müssen Schläge einstecken, wie seinerzeit Muhammad Ali. Manchmal will ich gar nicht wissen, wer der Verursacher dieser Schläge ist, denn wenn ich sehe, dass eine nahestehende Person dafür verantwortlich, fühle ich mich noch schlechter. Das Beste ist, die Schläge einzustecken, ein paar Minuten zu leiden und dann diese Erfahrung in das Universelle Bewusstsein zu werfen, sofern man das vermag. Heute Morgen habe ich nicht länger als zwei Minuten unter diesem Angriff leiden müssen. Ich war stark genug, um die Sache zu regeln und es war nicht notwendig, den Angriff in das Universelle Bewusstsein zu werfen. Im Anschluss kam ich hierher und führte meine Übungen durch.

Das ist keine Phantasiegeschichte, das könnt ihr mir glauben! Eines Tages werdet ihr mein Schicksal teilen. Ihr werdet euch fragen, was ihr getan habt, um plötzlich derartige Schläge einstecken zu müssen. Um diese Erfahrung zu machen, muss man kein spiritueller Meister sein. Ein ganz normaler Mensch stolpert plötzlich, ohne eine äußere Ursache dafür zu finden. Oder während du sitzt, verspürst du plötzlich ein Ziehen in den Muskeln. Das geschieht nicht, weil in deinem Körper etwas nicht stimmt, sondern weil in der inneren Welt ganz bestimmte Dinge stattfinden. Jemand hat bewusst und überlegt seine starken, ungöttlichen Gedanken auf dich gerichtet, während du dir dessen nicht bewusst warst. Dein Körper konnte den Angriff nicht abwehren und du musstest ihn erdulden, da dein gesamtes Wesen weder energetisiert noch dynamisch war. Sehr, sehr oft leiden wir unter einer plötzlich auftretenden physischen Erkrankung. Doch es ist keine physische Erkrankung; jemand hat dich attackiert! Dieses Spiel geht immer weiter und weiter.

Um auf deine Frage zurückzukommen über die „göttlich lächelnden Augen des Meisters“, ich zeigte diese „göttlich lächelnden Augen“ viele, viele Male; sie sind kein Schwindel. Die Zeit wird kommen, da jeder einzelne meiner Schüler die Wahrheit meiner Worte erkennen wird, ob er mich jetzt ernst nimmt oder nicht. Je höher ihr aufzusteigen vermögt, desto klarer wird euch, wer ich bin und desto mehr Glaube, Liebe und Ergebenheit werdet ihr empfinden können. Aber andererseits, je tiefer ihr sinkt, desto mehr Verwirrung werdet ihr vorfinden. Doch wenn der Tag eurer Gottverwirklichung kommt, wird jemand da sein und euch diese Verwirklichung geben. Zu diesem Zeitpunkt werdet ihr kein fremdes Gesicht, keine fremde Gestalt sehen; nein, mein Gesicht, meine Gestalt wird da sein! Doch das bezieht sich nur auf die nahen Schüler; ich kann es nicht für alle tun.

From:Sri Chinmoy,Sri Chinmoy antwortet, Teil 8, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/sca_8