Nirata: Wie können wir unsere Begeisterung und Inspiration aufrechterhalten, besonders dann, wenn Du nicht bei uns bist?

Sri Chinmoy: Inspiration erhältst du beispielsweise, wenn du vor einem Baum stehst, seine Blüten, Früchte und Blätter betrachtest und seine Schönheit bewunderst. Aber häufig kommt es vor, dass wir in Gedanken ganz woanders sind. Vielleicht sind wir gerade hungrig und denken an eine Pizza. Wir überlegen uns, ob sie mit Käse oder Champignons belegt sein soll. Wo bleibt dann unsere Inspiration? Der Baum dient uns zur Inspiration. Er ist wunderschön und vermag uns unmittelbar in die Stille zu führen. Doch wo sind wir mit unserem Bewusstsein?

Vor einem Baum oder einem Gewässer zu stehen, kann für uns eine große Gelegenheit sein – vorausgesetzt, unser Bewusstsein ist darauf gerichtet. Wie viel Inspiration uns der wunderbare Anblick doch schenken kann! Wenn ich aber darin einen Fisch sehe und ihn mir in meiner Gier auf dem Teller wünsche, anstatt seine Schönheit zu bewundern, wo bin ich dann mit meinen Gedanken? Es liegt an mir, seine Schönheit und die Eleganz seiner Bewegungen zu würdigen oder meinen schlechten Gedanken nachzuhängen. Wir müssen also immer wissen, wo sich unser Bewusstsein befindet.

Nun, du hast mich bereits unzählige Male gesehen. Wenn du mich jedoch sehen willst, obwohl ich körperlich nicht anwesend bin, dann stelle dir einfach vor: „Mein Guru steht jetzt vor mir.“ Das wird dir Inspiration schenken. Vorstellung bedeutet nicht Einbildung. Nein! Sie ist eine Welt für sich, eine absolute Wirklichkeit; doch erst, wenn wir sie auf die physische Ebene herab bringen, wird sie greifbar. Wenn ich beispielsweise ein Gedicht verfasse, ein Lied komponiere oder sonst irgendetwas erschaffe, hat es seinen Ursprung immer auf der Ebene der Vorstellung.

Wenn du nach New York zurückfliegst, bin ich vielleicht in Singapur oder woanders. Aber versuche dir trotzdem vorzustellen, dass ich vor dir stehe. Was ist dagegen einzuwenden? Dabei handelt es sich nicht um Einbildung. Wenn ich jemanden liebe, sei es meine Mutter, meinen Vater oder sonst jemanden, ist es ganz natürlich, dass ich diese Person auch sehen will. Es mag stimmen, dass ich sie im Moment nicht mit meinen physischen Augen sehen kann; doch mit meinem inneren Auge, mit meinem inneren Empfinden, kann ich mir leicht vorstellen, wie diese Person vor mir steht. Und dadurch wird sie in meinem Leben greifbar und wirklich.

Im Augenblick sitze ich hier vor euch. Einige von euch fühlen große Inspiration, während andere nur hier sind, um zu sehen, wer sonst noch anwesend ist. Oder sie sagen sich: „Was werden die Leute von mir denken, wenn ich nicht komme?“ Jeder Einzelne hat also seinen ganz persönlichen Grund, warum er sich in der Gegenwart eines Meisters aufhält! Aber es gibt auch Sucher, die sagen: „Mir ist es völlig egal, ob andere hier sind oder nicht. Das geht mich nichts an. Meine Aufgabe ist nur, bei meinem Guru zu sein und mich von ihm inspirieren zu lassen.“

Während wir uns hier unterhalten, spreche ich zum Teil über sehr subtile Dinge; andererseits könnt ihr sehen, dass ich es auf familiäre Art und Weise tue. Es ist fast wie eine Plauderstunde. Ihr stellt mir ernsthafte Fragen und natürlich beantworte ich diese auch auf ernsthafte und subtile Weise. Dir, gutes Mädchen, rate ich: Ganz gleich, wo du dich aufhältst, nimm mich einfach mit dir mit. Wenn wir Gottes Namen als Mantra wiederholen – „Supreme, Supreme, Supreme“ - wo fühlen wir dann Seine Anwesenheit? Am Gipfel des Himalaya, weil er der Höchste ist? Nein, wir fühlen sie in unserem Herzen, hier in unserer Brustmitte, oder direkt vor uns. Und genauso kannst du mich direkt vor deine Augen oder vor dein drittes Auge bringen, ganz gleich wo ich mich aufhalte. Das wird dir Inspiration schenken.

Aber wie ich vorher schon sagte: Wenn ich einen Baum betrachte, aber eine leckere Pizza im Kopf habe, oder mich in einem schönen Garten befinde, aber in Gedanken ganz woanders bin, erhalte ich davon natürlich keine Inspiration. Wenn wir einen Meister haben, so stellt dieser zweifellos die größte Quelle der Inspiration für uns dar. Doch wir müssen den Vorteil dieser Inspiration auch nutzen. Das gleiche gilt für den Garten, den Baum oder sonst irgendetwas, das uns Inspiration schenkt. Wenn ein Gegenstand oder ein Mensch, der viel Inspiration vermittelt, direkt vor uns steht, sollten wir das, was er anzubieten hat und was wir von ihm brauchen, auch annehmen. Sonst kann es sein, dass wir wohl etwas Besonderes oder jemand Besonderen betrachten, aber an etwas ganz anderes denken. Die Kraft unserer Gedanken ist viel stärker als die Sicht unserer Augen. Wir können eine Person anschauen, aber an eine andere denken und damit viele Menschen an der Nase herumführen. In deinem Fall rate ich dir also, dir einfach vorzustellen, dass ich direkt vor dir stehe, selbst wenn du dich an einem anderen Ort oder Land als ich befindest.

Es gibt eine Schülerin, deren Namen ich jetzt nicht nennen will, aber sie zählt bereits zu den älteren Semestern. O Gott! Sie sagt, dass sie mich immer sieht oder meine Gegenwart spürt, wohin ich auch gehe oder wohin sie auch geht. Nun, wo befindet sich ihre Heimatstadt und wo ist New York? Sie wohnt nicht in New York. Vielleicht werde ich sie in diesem Leben nie wieder auf der physischen Ebene sehen. Und doch ist es nicht ihre Einbildung. Durch die Kraft ihrer Vorstellung nimmt sie mich überall vor ihr und an ihrer Seite wahr.

From:Sri Chinmoy,Sri Chinmoy antwortet, Teil 9, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/sca_9