Sexualität

Frage: Ich habe irgendwo gelesen, dass man beim Gebrauch von sexueller Energie gleichzeitig ein gewisses Maß an spiritueller Energie aufbraucht. Ist das wahr? Wenn ja, was kann man tun, wenn man ein spirituelles Leben führen will?

Sri Chinmoy: Was du gelesen hast, ist absolut wahr. Tierisch-menschliches Leben und göttliches Leben gehen nicht und können nicht Hand in Hand gehen. Um die höchste Wahrheit zu erreichen, bedarf der Suchende der völligen Reinigung und Transformation seines niederen vitalen Bereiches. Wenn man wirkliche Freude, immerwährende Freude haben will, dann muss man über das geschlechtliche Bedürfnis hinausgehen. Wenn der Sucher mit grenzenlosem Frieden, Licht und Seligkeit überschwemmt werden will, dann muss er früher oder später das Bedürfnis nach Sexualität überwinden. Sonst werden transzendentaler Frieden, Licht und Seligkeit für ihn in weiter Ferne bleiben.

Aber man kann Gott nicht über Nacht verwirklichen. Das ist unmöglich. Du erhältst einen Universitätsabschluss nicht an einem Tag, nicht einmal in einem Jahr. Vielleicht dauert es zwanzig Jahre, bis du ans Ziel gelangst. Gott-Verwirklichung ist ein weit schwierigeres Fach. Es können zwanzig oder dreißig Jahre, ein ganzes Leben oder viele weitere Inkarnationen erforderlich sein, damit du Gott verwirklichen kannst – das hängt ganz von deiner gegenwärtigen Strebsamkeit und deinen vorangegangenen spirituellen Leben ab.

Wenn du einem Anfänger sagst, dass er sein niederes Vital-Leben, sein Sexualleben, auf einen Schlag aufgeben müsse, wird er sagen: „Unmöglich! Wie kann ich das tun?“ Wenn er das tun muss, wird er nie ins spirituelle Leben eintreten. Langsam und stetig muss er den Weg zu seinem Ziel bahnen. Wenn er zu schnell laufen will und nicht die Fähigkeit dazu hat, wird er ganz einfach auf der Strecke bleiben. Er wird auch seine begrenzte Strebsamkeit noch verlieren.

Sein Sexualleben umzuwandeln ist wie eine schlechte Gewohnheit aufzugeben, aber es ist gewöhnlich schwieriger und dauert länger. Angenommen, jemand trinkt viel. Wenn er sechs- oder siebenmal am Tag trinkt, lass ihn zuerst die Tatsache erkennen, dass dies für seine Gott-Verwirklichung schädlich ist. Dann lass ihn versuchen, weniger zu trinken. Wenn er sechsmal am Tag trinkt, lass ihn zu fünfmal übergehen. Nach ein paar Tagen soll er viermal im Tag trinken, und dann, nach einer weiteren Weile, dreimal täglich. Lass ihn allmählich seinen Wunsch nach Alkohol Schritt um Schritt verringern. In unserem gewöhnlichen Leben haben wir viele Schwächen. Wenn wir sie alle auf einmal besiegen wollen, wird der Körper sich widersetzen und zusammenbrechen. Der Körper wird sich auflehnen und wir werden in Stücke zerrissen. Um unsere Begierden langsam und stetig zu besiegen, brauchen wir einen wirklichen inneren Willen, den Willen der Seele. Wir müssen unser Sexualbedürfnis mit unserer Strebsamkeit Schritt um Schritt verringern. Es wird ein Tauziehen zwischen der Strebsamkeit und der grob-physischen Begierde, und langsam wird sich unsere Natur reinigen. Wir müssen unserem inneren Drang folgen und zum Licht laufen. Dann werden wir feststellen, dass zwischen Vergnügen und Freude ein großer Unterschied besteht. Auf Vergnügen folgt immer Frustration, und auf Frustration folgt unvermeidlich Zerstörung. Auf Freude jedoch folgt mehr Freude und immense Freude, und in der Freude werden wir wirklich erfüllt.

Wenn jemand ins spirituelle Leben eintritt und sagt: „Heute werde ich alle meine niederen Eigenschaften besiegen“, dann hält er sich selbst zum Narren. Morgen wird ihn seine körperbezogene Gedankenwelt mit Zweifeln quälen. Sein unreiner und grausamer Vital-Bereich wird versuchen, ihn auf jede Art und Weise zu bestrafen. Er wird sich miserabel fühlen. Er wird frustriert sein, und in seiner Frustration wird drohend seine eigene Zerstörung aufscheinen. Das niedere Vital-Leben muss vollständig umgewandelt sein, bevor die Gott-Verwirklichung stattfinden kann, aber ich rate meinen Schülern, es Schritt für Schritt und mit aufrichtiger Entschlossenheit zu tun.

From:Sri Chinmoy,Primer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/scp