Die Erleuchtung liegt nicht in weiter Ferne. Sie ist sehr nahe: sie liegt in uns. Durch unseren inneren Fortschritt können wir jeden Augenblick bewusst in unsere Erleuchtung hineinwachsen. Innerer Fortschritt vollzieht sich durch ständiges Opfer. Was wird geopfert? Falsche, schlechte Gedanken und ein falsches Verständnis der Wahrheit. Opfer und Verzicht gehen Hand in Hand. Auf was werden wir verzichten? Auf den physischen Körper, auf die Familie, die Freunde, die Verwandten, unser Land, die Welt? Nein! Wir müssen auf unsere eigene Unwissenheit, auf unsere eigenen falschen Vorstellungen von Gott und von der Wahrheit verzichten. Dazu müssen wir Gott, dem inneren Führer, das Ergebnis all unserer Taten darbringen. Wenn wir das tun können, wird die göttliche Vision nicht länger außerhalb unserer Reichweite liegen.
In unserem täglichen Leben gebrauchen wir oft die Begriffe Knechtschaft und Freiheit. Doch die Verwirklichung sagt uns, dass es so etwas wie Knechtschaft und Freiheit nicht gibt. In Wahrheit existiert nur Bewusstsein – Bewusstsein auf verschiedenen Ebenen, Bewusstsein, das sich seiner selbst in seinen verschiedenen Manifestationsformen erfreut. Im Bereich der Manifestation hat das Bewusstsein verschiedene Stufen. Warum beten wir? Wir beten, weil unser Gebet uns von einer niedrigeren Stufe der Erleuchtung zu einer höheren Stufe der Erleuchtung führt. Wir beten, weil unser Gebet uns etwas Reinem, Schönem, Beflügelndem und Erfüllendem näher bringt. Die höchste Erleuchtung ist die Gottverwirklichung. Diese Erleuchtung muss nicht nur in der Seele stattfinden, sondern auch im Herzen, im Verstand, im Vitalen und im Körper. Gottverwirklichung ist die bewusste, vollständige und vollkommene Vereinigung mit Gott.
Wir möchten die Welt lieben; die Welt möchte uns lieben. Wir möchten die Welt erfüllen; die Welt möchte uns erfüllen. Es existiert aber keine Verbindung zwischen uns und der Welt. Wir haben das Gefühl, unsere Existenz und die Existenz der Welt seien zwei völlig verschiedene Dinge. Wir glauben, die Welt sei von uns getrennt. Doch hier machen wir einen bedauerlichen Fehler. Was ist die eigentliche Verbindung zwischen uns und der Welt? Gott. Wenn wir uns zuerst Gott nähern und Gott in der Welt sehen, dann wird die Welt unsere Fehler nicht nur dulden, sondern uns darüber hinaus innig lieben, egal wie viele Millionen von Fehlern wir begehen. Gleichzeitig werden wir der Welt vergeben können, wenn wir ihre Fehler, ihre Schwächen und Unvollkommenheiten sehen und sie dann motivieren, ihr neue Energie schenken und sie erleuchten können, einfach darum, weil wir in ihr Gottes Existenz fühlen.
Wenn wir Gott nicht in all unseren Tätigkeiten sehen, wird unser Alltagsleben von Enttäuschung geprägt sein. Egal wie aufrichtig wir der Welt zu gefallen versuchen, egal wie aufrichtig die Welt uns zu gefallen sucht – zwischen unserem Verständnis und dem Verständnis der Welt wird nur Frustration zu finden sein. Die Quelle der Frustration ist Unwissenheit. Unwissenheit ist die Mutter verwüstender Frustration, zerstörender Frustration und erwürgender Frustration. Wenn wir tiefer in die Unwissenheit eindringen sehen wir, dass alles ein Spiel des Nichtbewussten ist. Nur wenn wir in den Ursprung aller Existenz eintreten, können wir die Frustration völlig aus unserem Leben verbannen. Wenn wir in die Quelle unserer eigenen Existenz und der Existenz der Welt eintreten, nähern wir uns der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist unsere ständige Wonne, und Wonne ist der Atem Gottes.
Diese Welt gehört weder mir noch dir noch sonst irgendjemandem; sie gehört Gott und Gott allein. Wir müssen deshalb wirklich weise sein. Wir müssen zuerst zum Besitzer gehen und nicht zum Besitz. Der Besitz selbst ist hilflos; er kann von sich aus nichts tun. Nur der Besitzer kann mit seinem Besitz tun, was er will. Deshalb müssen wir zuerst eins mit Gott werden und dann werden wir automatisch eins mit Gottes Besitz. Wenn wir eins mit Gott und mit Seinem Besitz werden, können wir sicher und unfehlbar fühlen, dass die Welt unser ist und dass wir der Welt gehören.
Unwissenheit und Erleuchtung sind wie Tag und Nacht. Wir müssen zuerst in die Erleuchtung, in das erleuchtende Licht eingehen und dieses dann in die Nacht der Unwissenheit bringen. Wenn wir die Unwissenheit auf dem umgekehrten Weg erleuchten wollen, dann wird die Umwandlung der Unwissenheit schwierig, langsam und ungewiss sein. Direkt in den Bereich der Unwissenheit einzudringen heißt, einen negativen Pfad, einen Pfad der Dunkelheit zu wählen. Die beste, positive Weise, Licht zu finden, besteht darin, dem Pfad des Lichts zu folgen, wo wir mehr Licht, unerschöpfliches Licht, unendliches Licht finden. Wenn wir dem Pfad des Lichts folgen, wird mit Sicherheit die Erleuchtung in uns dämmern.
Lasst uns hinaufschauen und das Licht von oben herab bringen. Sobald wir hinaufschauen, kommt Gottes Gnade herab. Es ist die natürlichste Eigenschaft von Gottes Gnade, dass sie zu jedem Menschen hier auf die Erde herabkommt. Wenn wir mit unserer Unwissenheit zu Gott hinaufgehen, so ist es, als würden wir mit einem schweren Rucksack auf unseren Schultern einen Berg hinaufsteigen, was eine schwierige Aufgabe ist. Stattdessen können wir am Fuße des Berges bleiben und nach Gottes Gnade rufen, die bereit, ja begierig ist, vom Höchsten zu uns herabzukommen. Es ist unendlich viel leichter für Gott, in unsere Unwissenheit herabzukommen, als es für uns ist, unsere Unwissenheit zu Gott hinaufzutragen.
Erleuchtung ist das bewusste Gewahrsein der Seele. Erleuchtung ist die bewusste Vision der Wirklichkeit, die manifestiert werden wird. Erleuchtung ist in Durchführbarkeit verwandelte Möglichkeit. Erleuchtung ist wie Gottes göttlicher Zauberstaub. In dieser Welt braucht ein gewöhnlicher Zauberer seinen Zauberstaub, um einen Gegenstand in etwas anderes zu verwandeln. Wenn Gott Erleuchtung in diese Welt bringt, dann geht das endliche Bewusstsein der Erde in das Unendliche ein und wird zum Unendlichen.
In der Erleuchtung erkennt der Mensch zum ersten Mal Gottes allmächtige Kraft, Sein grenzenloses Mitgefühl, Sein unendliches Licht und Seine vollkommene Vollkommenheit. Erst unsere Erleuchtung lässt uns fühlen, was Gott wirklich ist. Vor der Erleuchtung ist Gott theoretisch; nach der Erleuchtung wird Gott praktisch. Erleuchtung ist eine göttliche magische Kraft, die uns jene Wirklichkeit sehen lässt, die früher einmal unsere Vorstellung war. Wenn in einem Menschen die Erleuchtung dämmert, ist Gott nicht länger nur ein Versprechen, sondern eine wirkliche Errungenschaft.
Die Erleuchtung ist im Verstand und im Herzen. Wenn der Verstand erleuchtet ist, werden wir zu einem auserwählten Instrument Gottes. Wenn das Herz erleuchtet ist, werden wir zu Gottes Stimme. Hier in der physischen Welt hat sich der Verstand sehr weit entwickelt. Dadurch, dass der Mensch seinen intellektuellen Verstand entwickelt hat, wurde er den Tieren überlegen, denn das Niveau des Verstandes ist höher als das Niveau des Körperlichen oder des Vitalen. Der Mensch hat die Fähigkeit des Verstandes entwickelt, doch die Fähigkeit des Herzens hat er noch nicht entwickelt. Wenn wir das Herz entwickeln, werden wir feststellen, dass die Fähigkeiten des Herzens viel größer sind, als wir es uns vorgestellt haben. Wenn wir das einzigartige Gefühl in unserem Herzen entwickeln, dass wir von Gottes höchster Vision kamen und für Gottes vollkommene Manifestation sind, dann wird die Erleuchtung stattfinden.
— Sri ChinmoyFrom:Sri Chinmoy,Die höchsten Höhen des Bewusstseins: Samadhi und Siddhi, The Golden Shore GmbH, Nürnberg, 2018
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/sgl