Frage: Ist es richtig zu sagen, dass Buddha zu jenen gehört hat, die eine Flucht vor der Welt befürwortet haben?

Sri Chinmoy: Es wäre falsch zu behaupten, die Philosophie Buddhas sei eine Philosophie der Flucht und er hätte diese bewusst angestrebt. Buddhas wirkliches Anliegen war, dem menschlichen Leiden in der Welt ein Ende zu setzen. Wie ein göttlicher Krieger spielte er seine Rolle in der Weltarena. Er gebrauchte den Ausdruck ‚Gott‘ nicht, doch er verwendete die Worte ‚Wahrheit’ und ‚Licht’. Nach seiner eigenen Verwirklichung blieb er noch vierzig Jahre auf der Erde, in denen er versuchte, das Bewusstsein der Menschheit zu heben. Er reiste viel, um zu lehren und zu predigen. Trotz seines gebrechlichen Körpers fuhr er fort zu predigen und versuchte unermüdlich, Frieden, Licht und Glückseligkeit auf die Erde zu bringen. Doch er sah, dass die Menschen, denen er helfen wollte, nicht empfänglich waren, und so kam er zu dem Schluss, dass es fast unmöglich sei, dem menschlichen Leiden ein Ende zu setzen.

Dann entdeckte er das Nirvana, einen Zustand, in dem alle Wünsche, alle irdischen Neigungen ausgelöscht sind und keine Begrenzungen mehr existieren. Dort geht man über den Bereich des Physischen hinaus und alles ist innere Existenz. Da sagte er: „Nun bin ich sehr, sehr müde. Ich möchte in diesen glückseligen Zustand eintreten und mich da ausruhen.“ Er entschied sich, andere göttliche Soldaten für die vollständige Manifestation Gottes kämpfen zu lassen, die noch auf die Welt kommen würden. Wenn sich ein Soldat nach vielen Jahren tapferen Kampfes ausruht und dann ein anderer Soldat nach ihm kommt, der entschlossen ist, so lange weiter zu kämpfen, bis er das Höchste manifestieren kann, dann ist es einleuchtend, dass dieser seine Aufgabe mit frischer Energie, Kraft und Ausdauer erfüllen kann. Wenn man nach der Verwirklichung manifestieren will, dann führt man die Menschheit natürlich einen Schritt weiter, denn Gott benötigt auch Manifestation.

Doch zu sagen, der erste Soldat habe seine Rolle nicht gespielt oder wollte fliehen, ist falsch. Als Mensch erfüllte Buddha seine Aufgabe. Buddha besaß die Verwirklichung. Er besaß die Enthüllung. Er begann auch zu manifestieren, doch letztlich wollte er keine bewusste Rolle in der Manifestation spielen. Er wollte nicht länger am kosmischen Spiel teilnehmen. Einige Anhänger Buddhas verstanden seine Philosophie falsch und verdrehten sie nach Belieben. Buddha riet nie zur Flucht oder zur Verneinung der Welt. Er riet zu Gebet und Meditation, um in den ewig währenden glückseligen Bewusstseinszustand zu gelangen. Man kann sagen, er habe einen neuen Pfad betreten oder ein neues Haus aufgesperrt. Jene, die diesen Pfad betreten oder in dieses Haus eintreten, kommen nach der Gottverwirklichung nicht wieder auf die Erde zurück, während jene, die in ein anderes Haus eintreten, in die Welt zurückkommen.

Wenn man das Nirvana erlangt hat, ist man darin natürlich nicht gefangen. Nein, wenn man in das Nirvana eintritt, kommt man normalerweise nicht zurück, weil man es nicht will. Doch es gibt Meister, die über das Nirvana hinausgehen und trotzdem in die Welt zurückkehren. Sie bleiben nicht in jenem Haus. Die dynamische Kraft des Supreme zwingt diese Meister, wieder in die Welt zurückzukommen um für Seine Manifestation zu arbeiten, selbst nachdem sie ein Leben als gottverwirklichte Seelen gelebt haben.

From:Sri Chinmoy,Die höchsten Höhen des Bewusstseins: Samadhi und Siddhi, The Golden Shore GmbH, Nürnberg, 2018
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/sgl