Die Wissenschaft entdeckt laufend etwas, und jedes Mal, wenn sie etwas entdeckt, erhalten wir große Freude und Zufriedenheit. Wir sagen: „Ah, eine neue Entdeckung!“ Aber die Wissenschaft betrachtet diese Entdeckung nicht als ihr eigen. Alles ist bloß Selbstausdruck, Selbstenthüllung, aber nicht Selbstmanifestation.
Wurde auf der spirituellen Suche hingegen das Selbst entdeckt, ist diese Errungenschaft bereits die Manifestation ihrer eigenen Wirklichkeit, ihrer eigenen Existenz. Was wir als Selbstentdeckung bezeichnen, ist nichts anderes als Gottentdeckung. Zwischen der Entdeckung Gottes und der Entdeckung des Selbst existiert kein Unterschied. Wenn ich mich selbst entdecke, fühle ich nicht, dass ich etwas Fremdes entdecke; es handelt sich um meine eigene Wirklichkeit. Ich bin mir meiner eigenen ewigen, unendlichen und unsterblichen Wirklichkeit bewusster geworden.
Die Wissenschaft tut das nicht. Sie entdeckt etwas und fühlt sofort, dass es sich dabei um eine neue Schöpfung handelt. Die Spiritualität spricht nicht von Schöpfung; sie spricht von der Entfaltung und von der Enthüllung des Selbst. Ich enthülle einfach mein Selbst; nun weiß ich, wer ich bin. Jedes Mal, wenn wir spirituell etwas entdecken, entdecken wir einfach nur unsere eigene Unsterblichkeit, unsere eigene Unendlichkeit, unsere eigene Ewigkeit. Wir tauchen tief nach innen, und dies sind unsere Entdeckungen.
Jedes Mal, wenn ein spiritueller Sucher etwas entdeckt, entdeckt er einen Teil seiner Wirklichkeit, die ohne Anfang und Ende ist. Die Wissenschaft ist nicht dieser Ansicht. Ein Wissenschaftler entdeckt etwas aus heiterem Himmel und denkt, er habe es von einem Planeten oder vom Himmel oder vom Ozean erhalten. Er hat seine Entdeckung von einem anderen Ort erhalten. Und er hat sie aufgrund seiner Vorstellungskraft oder seiner Bestrebungen erhalten. Er fühlt nicht, dass es sich dabei um seine eigene, zum Vorschein kommende Göttlichkeit handelt, und deswegen kann er diese Entdeckung nicht als sein eigen beanspruchen. Ein Wissenschaftler kann seine wissenschaftliche Forschung oder Entdeckung als seinen Besitz betrachten, als sein Eigentum. Doch er kann sie nicht auf dieselbe Weise sein eigen nennen, wie ein spiritueller Mensch seine Selbstentdeckung sein eigen nennen kann.
Ein spiritueller Mensch verwirklicht einfach seine eigenen höchsten und tiefsten Wesensteile. Er schaut in eine seiner Schubladen und sagt: „Oh mein Gott! Ich habe nicht gewusst, dass ich fünf Euro in dieser Schublade hatte!“ Dann öffnet er noch weitere Schubladen und findet zehn, zwanzig, fünfzig oder hundert Euro. Er empfindet keine Trennung zwischen sich und jeder neuen Entdeckung, sondern er identifiziert sich damit, wird eins mit ihr, so wie eine Blume mit ihrem Duft eins wird. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden?
Nehmen wir nun die Wissenschaft in Augenschein. Sagen wir, die Wissenschaft hätte in Erfahrung gebracht, wie man ein Messer herstellt. Der Wissenschaftler hält das Messer und er hält auch eine Frucht. Ich sage immer, dass man mit einem Messer eine Frucht aufschneiden und sie mit seinen Freunden teilen kann, oder man kann mit ihm die nächstbeste Person verletzen. Dem füge ich jetzt noch etwas hinzu.
Nehmen wir an, der Wissenschaftler hat die Frucht zerteilt und seinen Freunden gegeben. Dann sagt einer von ihnen: „Deine Frucht schmeckt überhaupt nicht. Ich habe eine viel köstlichere Mango gesehen.“ Wie reagiert der Wissenschaftler? Vielleicht wird er wütend. Entweder wirft er seine Mango dem anderen an den Kopf oder er geht vielleicht soweit und setzt sein Messer gegen die andere Person ein, da diese seine Mango kritisiert hat. Die Reaktion der Wissenschaft könnte in Zerstörung ausarten. Auf ähnliche Weise könnte es geschehen, dass ein stärkeres Land ein schwächeres Land bombardiert, wenn es von diesem kritisiert wird.
Wenn ein spiritueller Meister sich selbst entdeckt hat, so handelt er kraft seiner Selbstentdeckung nicht auf diese Weise. Nehmen wir an, er hielte dasselbe Messer und dieselbe Frucht in den Händen. Wenn jemand die Mango oder das Messer kritisiert, wird er sagen: „In Ordnung, wenn du meine Mango nicht haben möchtest, wird es jemand anderen geben, der sie zu schätzen vermag. Da du meine Mango nicht magst, mein Bruder aber auch eine besitzt, kannst du vielleicht zu ihm gehen und sehen, ob dir seine Mango schmeckt.“ Oder der Meister wird sagen: „Wenn du meine Mango nicht schätzt, so macht das nichts. Der Tag wird kommen, an dem du eine Mango wirst essen müssen, denn wenn du sie nicht isst, wirst du nicht genährt und du wirst schwach bleiben. Und wenn du kein Messer hast, wie willst du dann die Mango zerteilen?“
Die Entdeckung des Selbst bringt sofort Universalität zu uns, ein Gefühl des universellen Einsseins. Du schätzt nicht, was ich anzubieten habe? Dann gehe dort hinüber; dort ist mein Bruder. Oder gehe auf diese Seite; da ist meine Schwester. Gehe in die andere Richtung; da ist mein Freund. Wahre Spiritualität singt das Lied des Einsseins. Doch die Wissenschaft singt nicht das Lied des Einsseins. Die Wissenschaft singt das Lied der Überlegenheit.
Selbstentdeckung breitet sich aus. Sie reicht hierhin, dorthin, überall hin. Doch die Wissenschaft bringt, ganz gleich ob sie nun diesen oder jenen Weg geht, die Emotion der Überlegenheit mit sich. Die Spiritualität wird immer die Botschaft der Vertrautheit, die Botschaft des Einsseins, Einsseins, Einsseins mit sich tragen. Die wissenschaftliche Entdeckung wird sich immer in der Welt des Wettbewerbs befinden. Doch in der Selbstentdeckung steckt immer das Gefühl der universellen Wirklichkeit.
Die Wissenschaft läuft stets neuen Entdeckungen hinterher, während die Spiritualität stets nach der Ewigkeit, nur nach der Ewigkeit, strebt. Was ist die Ewigkeit? Die Ewigkeit ist das Hier und Jetzt. Im Hier steckt die Ewigkeit. Im Jetzt steckt die Ewigkeit. Die Wissenschaft will immer neue Entdeckungen. Doch die Spiritualität sagt: „Ich schenke dir die Ewigkeit.“ Und wo ist diese Ewigkeit? Die Ewigkeit steckt in den Worten ‘Hier' und ‘Jetzt'.From:Sri Chinmoy,Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
Quelle https://de.srichinmoylibrary.com/ybg