Stolz, Demütigung und Erleuchtung
Diese Geschichte handelt von einem jungen Mann, der sehr spirituell war. Er betete und meditierte jeden Tag höchst seelenvoll. Er hatte einen Guru, der zu den größten überhaupt gehörte und der eine große Anzahl von Schülern hatte.Dieser junge Mann ging in den Ashram seines Gurus und besuchte gleichzeitig die Universität. Zufällig studierte der Prinz des betreffenden Königreiches an derselben Universität. Die beiden jungen Männer wurden enge Freunde.
Eines Tages stellte der Prinz seinem Freund die Frage: „Warum bin ich immer noch nicht glücklich, obwohl ich alles habe - materiellen Reichtum, Wohlstand, Vergnügen, alles was man sich nur wünschen kann. Du hingegen, der du von einer armen Familie kommst, bist immer glücklich. Was macht dich so glücklich?“
Sein Freund antworte ihm: „Es gibt jemanden, der mir in meinem Lebens ständiges Glück schenkt.“
„Wer ist das? Kann ich diesen Menschen treffen?“
„Ja, ich kann dich zu seinem Ashram bringen. Er ist mein spiritueller Meister. Doch du bist ein Prinz und verdienst von allen Respekt. Obwohl du mein Freund bist, zeige ich dir gegenüber ungeheuren Respekt. Selbst die Professoren zeigen dir gegenüber Respekt, weil du der Prinz bist. Doch mein spiritueller Meister zeigt dir gegenüber möglicherweise überhaupt keinen Respekt. Er steht über all dem. Du bist höchst willkommen, meinen Meister zu besuchen, doch ich habe keine Ahnung, was er tun und wie er dich empfangen wird. Wenn du das Gefühl hast, dadurch nicht beleidigt zu werden, dann bist du höchst willkommen, mit mir zu kommen.“
„Gut. Sag mir, wo er lebt. Morgen werde ich dorthin gehen. Sollte ich ihm irgendetwas mitbringen?“
„Es hängt davon ab, in welcher Haltung du zu ihm gehst. Wenn du mit Strebsamkeit, das heißt mit einer inneren Sehnsucht nach immerwährendem Frieden und ständiger Glückseligkeit zu ihm gehst, dann solltest du einige Früchte und Blumen mitbringen und sie ihm geben. Das machen normalerweise Sucher, wenn sie zu einem spirituellen Meister gehen. Der Meister verteilt diese Dinge an die anderen Schüler. Wir nennen dies Prasad, geheiligte Nahrung. Doch wenn du aus reiner Neugierde gehst, dann brauchst du nichts mitzubringen.“
Als der Prinz am folgenden Morgen zum Ashram kam, meditierten der betreffende Schüler sowie seine Brüder- und Schwestern-Schüler bereits mit großer Aufrichtigkeit vor ihrem Meister. Der Prinz hatte Früchte und Blumen bei sich. Doch um zu zeigen, dass er kein gewöhnlicher Mensch war, sondern der Prinz, hatte er sich sein Schwert umgebunden. Alle waren völlig in den spirituellen Meister vertieft und niemand schenkte dem Prinzen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Selbst sein engster Freund schaute ihn nicht an oder bemerkte ihn nicht einmal.
Der Prinz stand etwa eine halbe Stunde lang in der Nähe der Türe, doch weder der Meister noch die Schüler schenkten ihm die geringste Aufmerksamkeit. Schließlich wurde er wütend und rief: „Wisst ihr denn, dass ich der Prinz bin?“ „Kennt ihr meine Macht? Ich werde euch alle umbringen, einen nach dem anderen!“ Doch als er versuchte, sein Schwert zu ziehen, konnte er es nicht bewegen. Er versuchte es mit seiner ganzen Kraft, doch es gelang ihm einfach nicht, das Schwert aus der Schaft zu ziehen.
Der Prinz konnte sich vor Wut kaum noch beherrschen, als er sich in solcher Verlegenheit vorfand, doch der Meister schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. Dann begann der Meister zum Prinzen zu sprechen. Als der Meister zu ihm sprach, schauten alle Schüler auf der Prinzen. Der Meister sagte: „Du glaubtest, wir seien alle Narren, weil wir dir keine Aufmerksamkeit schenkten. Dies hier sind meine spirituellen Kinder, die hierher gekommen sind, um mich zu sehen. Als du keine Aufmerksamkeit erhalten hast, kam dein Stolz zum Vorschein und du wolltest uns alle erstechen. Wir sind alle unschuldige Menschen. Unser Interesse liegt einzig im Beten und Meditieren. Du bist mit aufrichtiger Absicht hierher gekommen, doch du hättest aufrichtiger sein sollen. Du hättest in der Absicht kommen sollen, teilzunehmen. Wenn wir in ein Restaurant gehen, essen wir. Wenn wir in die Schule gehen, besuchen wir den Unterricht. In einem Ashram beten und meditieren wir. Du hingegen wolltest zeigen, dass du der Prinz bist und als du bemerkt hast, dass dir niemand Aufmerksamkeit schenkt, kam dein ungöttliches Ego zum Vorschein und du wurdest so wütend, dass du uns alle umbringen wolltest. Zum Glück hat dich meine okkulte Kraft davon abgehalten, denn das Karma, das du dadurch auf dich gezogen hättest, wäre jenseits aller Beschreibung. Doch auch so wirst du bestraft werden. Mit meiner okkulten Schau sehe ich, dass du in sechzehn Tagen einen tödlichen Cholera-Anfall erleiden wirst. Du wirst nie König werden. Dein jüngerer Bruder wird auf den Thron steigen.“
Der Prinz, sein Freund und alle anderen Schüler bekamen einen furchtbaren Schock. Der Prinz sagte schließlich: „Wie kannst du mich als spiritueller Mensch auf diese Weise verfluchen?“
„Ich habe dich nicht verflucht“, sagte der Meister. „Deine eigene Seele hat dich verflucht, weil du drauf und dran warst, unser Leben auszulöschen. Als wir auf Gott, auf Frieden, Licht und Glückseligkeit meditierten, wolltest du uns umbringen, weil wir dir keine Aufmerksamkeit schenkten. Nun ist deine Seele deiner zutiefst überdrüssig und will der Körper verlassen.“
Der Prinz war im Anblick seines unmittelbaren Todes zutiefst erschrocken und bat den Meister, ihn zu retten.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, wie du gerettet werden kannst“, sagte der Meister. „Wenn einer meiner Schüler kommt und dich an dem Tag berührt, an dem du bestimmt bist, an Cholera zu sterben, wirst du wieder gesunden und jener Schüler wird an deiner Stelle sterben. Du wirst wieder gesund sein, doch ich werde einen meiner Schüler verlieren. Wenn nun irgendeiner meiner Schüler bereit ist, sein Leben zu opfern, dann soll er bitte aufstehen.“
Sofort standen alle Schüler auf. „Wir alle sind bereit“, sagte einer der Schüler. „Wähle einen von uns.“
Der Meister sagte zum Prinzen: „Schau nur, du wolltest sie umbringen, doch sie sind bereit, ihr Leben für dich zu geben. Dies ist der Unterschied zwischen spirituellen Menschen und gewöhnlichen Menschen. Dies sind meine spirituellen Kinder. Jeder Einzelne ohne Ausnahme ist bereit, sein Leben für dich zu geben.“
Der Prinz sagte: „Jetzt ist jeder bereit, sein Leben für mich zu geben, doch wenn meine Stunde schlägt, wer weiß, wo sie dann sein werden.“
„Prinz,“ sagte der Meister, „in sechzehn Tagen wird deine Stunde schlagen und ich versichere dir, dass keiner meiner Schüler mich enttäuschen wird. Diesen Glauben an meine Schüler besitze ich.“
Wie der Meister vorausgesagt hatte, erkrankte der Prinz am sechzehnten Tag an Cholera. Der König und die Königin kamen vor Sorge fast um ihren Verstand. Keiner der Ärzte konnte ihn heilen. Es handelte sich nur noch um Stunden, bis der Prinz sterben würde. Zu diesem Zeitpunkt traf der Meister mit all seinen Schülern, die sechzehn Tage zuvor im Ashram gewesen waren, im Palast ein. Der König hörte ihre Geschichte und war tief gerührt, dass so viele Menschen bereit waren, ihr Leben für seinen Sohn zu geben.
Der König sagte: „Wir müssen eine Wahl treffen. Ich werde der Familie desjenigen, der sein Leben für meinen Sohn hingibt, die Hälfte meines Königreiches geben, vorausgesetzt, die Prophezeiung des Meisters erfüllt sich.“
Der Meister sagte: „Natürlich wird sich meine Prophezeiung erfüllen. Triff nun die Wahl. Es sind viele Leute hier.“
Der Student, der den Prinzen eingeladen hatte, zum Ashram des Meisters zu kommen, sagte: „Ihre Majestät, bitte wählen Sie mich. Dies alles ist mein Fehler, deshalb verdiene ich es zu sterben. Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn sie mir diese Gelegenheit geben würden. Ich bin ein unbedeutender Mensch. Wer wird um mich weinen? Doch wenn der Prinz stirbt, wird das ganze Königreich um ihn trauern. Lassen wir doch den Prinzen, meinen engsten Freund, hier auf der Erde bleiben.“
Als es nun soweit war, dass der Student sein Leben geben würde und er im Begriff war den Prinz zu berühren, sagte der Meister: „So ist nun alles entschieden? Ihr Sohn wird nicht sterben, aber mein geliebter Schüler wird sterben. Doch es gibt noch einen Weg, auf dem sowohl ihr Sohn wie auch mein spiritueller Sohn gerettet werden können.“
Alle waren hoch erfreut. „Sagen Sie mir wie“, sage der König. „Ich werde mit Freuden alles tun, was Sie sagen.“
„Sie müssen die Füße all meiner spirituellen Kinder waschen“, sage der Meister. „Wenn Sie Willens sind, die Füße all meiner hier anwesenden Schüler zu waschen, dann wird sowohl Ihr Sohn und wie auch mein spiritueller Sohn gerettet werden.“
„Ich soll die Füße all diese Leute waschen“ Ich bin der König. Ich bin ihr Herrscher. Wie kann ich ihre Füße berühren? Ich kann die Füße desjenigen berühren, den wir auswählten, sein Leben zu geben. Doch ich kann unmöglich die Füße all deiner Kinder waschen.“
Da sagte der Meister: „ Es liegt unter Ihrer Würde, die Füße meiner spirituellen Kinder zu berühren, doch sie sind alle mehr als willig, ihr eigenes Leben für Ihren Sohn zu geben. Das ist der Unterschied zwischen spirituellen Menschen und gewöhnlichen Menschen. Fragen Sie irgendeinen meiner Schüler hier und ohne das geringste Zögern wird er sein Leben für Ihren nutzlosen Sohn opfern. Wenn Sie die Bedeutung von Liebe kennen würden, würden Sie mit Freude die Füße jedes Menschen in Ihrem Königreich waschen, um Ihren Sohn zu retten. Und wenn Sie die Bedeutung von Dankbarkeit kennen würden, würden Sie dasselbe tun, um das Leben desjenigen zu retten, der sein eigenes Leben anerboten hat, um Ihren Sohn zu retten.“
„Gut“, sagte der König, „ich bin bereit, die Füße Ihrer Schüler zu waschen.“
Die Diener des Königs brachten Wasser, und der König wusch die Füße der gesamten Schüler des Meisters, einem nach dem anderen. Dann fragte er den Meister: „Sind Sie nun zufrieden? Ich habe die Füße all Ihrer Schüler berührt.“
„Ich bin zufrieden, doch Sie müssen sich bewusst sein, dass Sie all dies nur deswegen gemacht haben, um Ihren Sohn zu retten. Wenn das Leben ihres Sohnes nicht daran gehangen hätte, hätten Sie das nie getan.“
„Was wollen Sie von mir? Mein Sohn liegt im Sterben und ich habe bereits so viel Demütigung auf mich genommen. Ich habe die Füße all Ihrer Schüler berührt. Wenn Sie jedoch das Gefühl haben, ich sollte noch etwas Größeres tun, dann bin ich bereit es zu tun.“
„Wenn Sie wirklich spirituell gewesen wären,“ antwortete der Meister, „dann hätten Sie gesagt: ‘Die Zeit ist gekommen, wo mein Sohn gehen muss. Dieser Junge, der sein Leben hingeben will, hat auch Eltern. Das Leid, der Verlust, den ich erleiden werde, wenn ich meinen Sohn verliere, hätten auch seine Eltern durchzustehen. So grausam kann ich nicht sein. Mein Sohn hat etwas Falsches getan und wenn es für seine Seele an der Zeit ist den Körper zu verlassen, dann bin ich bereit, meinen Verlust anzunehmen.’ Wenn Sie eine solche Haltung gehabt hätten, dann hätte ich gesagt, Sie seien nicht nur ein König in der äußeren Welt, sondern auch ein Kaiser im spirituellen Leben.“
Und siehe da, die Cholera verließ den Prinz. Er war wieder völlig gesund. Der Prinz und der König waren beide verlegen, aber erweckt; gedemütigt, aber erleuchtet.