Nicht Krishna, sondern du, Meister

Es gab einmal einen großen Yogi, der trotz der Tatsache, dass er bereits Gott verwirklicht hatte, gewöhnlich zwölf bis vierzehn Stunden am Tag meditiere. Er hatte das Gefühl, dies sei notwendig, um das innere Gefäß immer rein zu halten, damit er unendlichen inneren Reichtum empfangen und ihn der Welt weitergeben könne. Dieser Yogi war die Aufrichtigkeit selbst, die Reinheit selbst, die Schönheit selbst, die Göttlichkeit selbst. Er war mit großer okkulter Kraft und solider spiritueller Kraft gesegnet.

Eines Nachts oder besser gesagt Morgens früh um drei Uhr klopfte ein älterer Schüler an der Türe des Yogis. Als der Yogi die Türe öffnete, sah er, wie dieser Schüler bitterlich weinte. Der Schüler zeigte dem Yogi ein Telegramm, in dem stand, dass sein einziger Sohn einen Herzschlag erlitten habe und es nur noch eine Sache von Stunden sei, bevor er sterben würde. Dieser Sohn lebte in einer weit entfernten Stadt, und so war der Vater außer sich vor Kummer, dass er seinen Sohn nicht mehr sehen würde. Der Schüler bat den Yogi seinen Sohn zu heilen. „Bitte, bitte“, flehte er, „lass meinen Sohn nicht sterben.“

„Wiederhole den Namen Krishnas, sag einfach ‘Krishna, Krishna, Krishna’, immer und immer wieder“, sagte der Yogi.

Der Schüler sagte: „Meister, Krishna wird nichts für meinen Sohn tun. Du musst es tun.“
Der Meister antwortete: „Wenn du meinen Krishna, meinen Guru beleidigst, dann wird dein Sohn sofort sterben. Du musst ‘Krishna, Krishna, Krishna’ wiederholen. Krishna ist die einzige Medizin.“

„Du hast großen Glauben an Krishna, Meister, doch ich habe keinen Glauben an ihn.“

„Warum hast du keinen Glauben an Krishna? Krishna ist mein eigener Guru.“

„Ich habe diesen Glauben nicht. Was kann ich tun?“

„Wenn du keinen Glauben hast, dann beginne ihn in diesem Augenblick aufzubauen. Wiederhole den Namen Krishnas und dein Sohn wird geheilt werden.“

„Nein! Krishna wird mein Gebet nicht erhören. Ich habe absurde, ungöttliche Dinge getan und ich habe nie zu ihm gebetet und ihn nie verehrt. Warum sollte er nun auf mich hören? Wenn ich Krishna nur anrufe, wenn ich in Gefahr oder in Schwierigkeiten bin, warum sollte er mich dann erhören?“

„Krishna kennt alle menschlichen Schwächen. Du bist zumindest bereit, ihn in schwierigen Zeiten anzurufen. Es gibt viele Menschen, die Gott nicht einmal anrufen, wenn sie in den größten Schwierigkeiten stecken. Viele sagen: ‘Warum bin ich in Schwierigkeiten, wenn du doch so voller Liebe bist?’ Gott hat ihnen bereits bewiesen, dass er grausam ist und so sagen sie: ‘Warum sollte ich zu ihm beten? Ich werde nicht zu ihm beten.’ Doch eine solche Haltung werde ich von meinen Schülern nicht akzeptieren. Wenn du dich nicht auf Krishna berufen kannst, dann verlasse bitte mein Haus.“

„Meister, ich bin bereit dein Haus zu verlassen, doch gewähre mir bitte zuerst einen großen Gefallen.“

„Was?“

„Heile meinen Sohn. Bitte wiederhole Krishnas Namen an meiner Stelle. Ich werde mit gefalteten Händen vor dir stehen.“

„Gut. Ich nehme deinen Vorschlag an. Stelle dich bitte fünfzehn Minuten lang vor mich und fühle, dass dein Sohn meine Anteilnahme erhält, dass dein Sohn Krishnas Anteilnahme erhält.“

Der Schüler sagte: „Meister, ich kann nicht an Krishnas Anteilnahme glauben, doch wenn du sagst, mein Sohn erhalte deine Anteilnahme, dann glaube ich dir.“

„Wenn du nicht fühlen kannst, dass es Krishnas Anteilnahme ist, dann kann ich ihn nicht heilen.“

„Gut, ich werde fühlen, dass es Krishnas Anteilnahme ist. Ich werde auf dich hören.“
Der Yogi begann den Namen Krishnas zu wiederholen. Plötzlich klopfte es an die Türe und der Diener des Schülers kam herein und brachte seinem Herrn ein Telegramm. Der Schüler sagte zum Yogi: „Schau Meister, es ist alles deine Gnade, nicht Krishnas Gnade. Das Telegramm sagt, dass mein Sohn am Leben bleiben wird. Du hast meinen Sohn geheilt.“

Der Yogi sagte: „Es war weder Krishna noch ich, der deinen Sohn geheilt hat. Dein Glaube an mich hat ihn geheilt. Du hast keinen Glauben an Krishna, deshalb wollte Krishna deinen Sohn nicht heilen. Ich selbst habe nicht die Macht deinen Sohn zu heilen. Dein Glaube an mich hat deinen Sohn geheilt.“

Dann gab der Yogi seinem Schüler wertvolle Ratschläge. Er sagte: „Selbst wenn du nicht regelmäßig beten und meditieren kannst, dann tue es wenigstens, wenn du dich in Schwierigkeiten befindest. Zumindest dann kannst du beten und meditieren. Wenn du zu Gott betest, wenn du dich in Schwierigkeiten befindest, wenn du in Gefahr bist oder wenn du in einer Katastrophe steckst und dann Gottes Segen erhältst, wirst du ein Gefühl von Dankbarkeit bekommen und einen inneren Gewissensbiss fühlen, weil du Gott solange vernachlässigt und ignoriert hast. Wenn du nur in der Not betest, ist es nicht schlimm. Gott wird dich nicht missverstehen. Gott wird nicht denken, dass du ein Opportunist oder ein unaufrichtiger Bursche bist. Er wird denken, es sei weise von dir zu Ihm um Hilfe zu beten, wenn du dich in Not befindest.

Wenn du in Not bist und nicht zu Ihm kommst, dann bist du ein Narr. Du anerbietest Gott deine Torheit ein zweites Mal. Wenn du nicht regelmäßig zu Gott betest, so ist das deine erste Torheit, deine größte Torheit. Und wenn du nicht an Ihn denkst, zu Ihm betest, auf Ihn meditierst, wenn du dich in Gefahr oder in Schwierigkeiten befindest, dann hast du denselben Fehler ein zweites Mal begangen. Das erste Mal bist du unwissend, so wird dir Gott vergeben. Das zweite Mal bist du arrogant und Gott wird dir nicht so leicht vergeben. Gott wird dir nur vergeben, wenn du Ihm deine Unwissenheit anerbietest. Doch wenn du Ihm deine Unwissenheit weder am Anfang noch in der Mitte noch am Ende anerbietest, dann wird dir Gott nicht helfen oder deine Nächsten retten können.
Es ist nie zu spät zu Gott zu beten. Wenn du beginnst, dann ist das der richtige Augenblick für dich. Sobald du beginnst auf dem rechten Pfad zu gehen, ist es der richtige Augenblick für dich. Je früher du beginnst, desto früher wirst du das Ziel erreichen.

Sri Chinmoy, Aufstieg und Fall der Schüler, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
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