Demut

Gott ist groß, weil Er allein vollkommene Demut verkörpert. Gott ist größer, weil Er durch unsere aufsteigende innere Strebsam­keit Demut auf irdischem Grund enthüllt. Gott ist am größten, weil Er seine trans­zen­dentale Herrlichkeit nicht von Seiner demü­tigsten Schöpfung, dem Grashalm, ge­trennt hat!

Es kann im spirituellen Leben nichts Größeres geben als Demut. Wahre innere Weisheit liegt in der Demut. Gegenüber wem sollte man demütig sein? Man muss gegenüber dem­jeni­gen demütig sein, den man als Inneren Führer in seinem inneren Leben ange­nommen hat.

Gewisse Leute sind nur im inneren Leben demütig; im äußeren Leben sind sie herrisch und glauben alles zu wissen. Wenn es sich um inneres Streben handelt, sind sie gegen­über ihrem Meister demütig. Wenn es sich jedoch um weltliche Weisheit handelt, sind sie der Meinung, sie wüssten unendlich viel mehr als der Meister. In dem Fall ist der Meister hilflos. Ich möchte betonen, dass ein spiritueller Meister selbst in der äußeren Welt fähiger ist, die Wahrheit zu sehen als ein weltlich gebildeter Mensch, denn der Meister ist in ständiger Berührung mit dem Höchsten, dem Supreme.

Sehr oft sagt der Arzt jemandem etwas, und ich sage ihm etwas anderes. Nun bin ich kein Arzt; ich habe nicht die Qualifikation eines Arztes. Doch ich kann unendlich viel schnel­ler in den Körper eines Patienten eindringen als ein Röntgenapparat. Wenn der Supreme will, dass ich dem Schüler sage, was er tun soll, werde ich es tun. In so einem Fall sollte der Schüler natürlich auf mich hören und nicht auf den Arzt. Auf der anderen Seite bin ich den Ärzten gegenüber demütig, weil auch sie Gottes Arbeit verrichten und Gott auf ihre eigene Weise erfüllen. Doch wenn zwischen dem Arzt und einem spirituellen Menschen, zwischen dem medizinischen und dem spiri­tuellen Arzt ein Konflikt entsteht, sollten meine Schüler begreifen, dass ich zur letzten Quelle gehe und ihnen dann die absolute Wahrheit sage.

Das trifft nicht nur bei euren Krankheiten, sondern in allen Bereichen eures Lebens zu. Wenn ich euch etwas über euer äußeres Leben sage, euer Familienleben, euer Ge­schäfts­leben, euer Arbeitsleben, dann möchte ich, dass ihr fühlt, dass ich euch dies von der höchsten Quelle her sage. Wenn ihr jedoch das Gefühl habt: „Nein, das kannst du nicht verstehen, denn du hast diese oder jene Person nicht getroffen oder diese oder jene Fähigkeit nicht erworben“, dann bin ich nicht bereit, euch zu helfen. Selbst wenn ihr vierzig oder fünfzig Jahre lang Erfahrung in einem gewissen Beruf oder mit dem Zurecht­kommen in einer gewissen Situation habt, solltet ihr weise und demütig sein und auf mich hören, wenn ich sage: „Bitte handelt so.“ Diese äußeren Ergebnisse mögen zeitweilig schmerz­­­­­haft oder selbst scheinbar schädlich sein, doch innerlich wird der Prozess im Einverständnis mit Gottes Plan ausgearbeitet und erfüllt, und die Probleme werden fast unmittelbar gelöst werden.

Jenseits des Physischen liegt das Spirituelle, und die wirkliche Wahrheit liegt im Spiri­tuellen. Man kann das Physische am effek­tivsten vom Spirituellen, vom subtilen Physi­schen her ändern. Wenn es sich also um eine Handlung in der physischen Welt dreht, so möchte ich all jenen sagen, die mich wirklich angenommen haben, dass ich nur dann handeln kann, wenn ihr eine wirklich demütige Haltung annehmt. Dann kann ich laufen und euch helfen, ebenfalls schnell zu laufen. Wenn ihr die innere Überzeugung habt, dass das, was der Meister sagt, absolut korrekt ist, und ihr dies mit voller Auf­richtigkeit und mit der spontanen Freude der Annahme fühlt, dann seid ihr meine wahren Schüler, und euer Leben kann ein Lied der Freiheit und des Einsseins mit mir sein.
Sehr oft hören meine Schüler voller Freude auf mich, wenn es ihnen gelegen kommt oder wenn ich ihnen sage, sie sollten etwas tun, was sie selbst schon tun wollten. Oder wenn sie alles auf ihre eigene Weise versucht haben, ohne meinen Rat einzuholen und nun finden, dass es keinen Ausweg mehr gibt und sie blockiert sind. Dann kommt die Zeit für sie, demütig zu werden und mich zu fragen. Ich brauche mich deswegen nicht traurig zu fühlen, doch ich fühle, dass ich nicht die volle Gelegenheit und Mög­lichkeit erhalte, mit diesen Schülern oder durch diese Schüler zu handeln.

Wenn seitens des Schülers keine ständige Demut vorhanden ist, dann gräbt der Meister in einem öden Feld. Ich bin ein Bauer, ein aufrichtiger Bauer. Ich pflanze und kultiviere, doch von gewissen Schülern erhalte ich keine Ernte, geschweige denn eine reichliche Ernte. Warum? Weil das, was ich geben will, sehr selten mit Demut angenommen wird.

Demut ist das wirkliche Geheimnis des spirituellen Lebens. Wenn wir unmittelbaren Fortschritt machen wollen, müssen wir de­mütig sein – nicht nur im inneren Leben, sondern auch im äußeren Leben. Nur dann werden wir Gott eher verwirklichen als wir erwarten. Sonst arbeite ich, konzentriere ich mich und meditiere ich vergeblich. Zu­sam­men mit meinem Handeln wird auch eine wirklich spirituelle Haltung eurerseits be­nötigt. Und was ist die wirklich spirituelle Haltung? Demut.

Wenn wir ohne Demut an Gottes Türe klopfen, wird sich Gottes Türe nie öffnen. Gehen wir also und klopfen so demütig wie nur möglich an die Türe des Supreme; Ihn zu verwirklichen, Ihn zu erfüllen.

Sri Chinmoy, Regenbogen-Blumen, Teil 1, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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