Das Ausziehen der Schuhe

Frage: Warum bittest du die Leute, ihre Schuhe draußen zu lassen und nicht in den Meditationsraum zu bringen?

Sri Chinmoy: Im spirituellen Leben sind zwei Dinge von größter Wichtigkeit. Das eine ist Reinheit und das andere ist Strebsamkeit, das innere Sehnen. Reinheit und Strebsamkeit müssen sich ergänzen. Reinheit macht das Streben intensiver, und Strebsamkeit erhöht die Reinheit. Derjenige, der innerlich und äußerlich rein ist, wird spontane Strebsamkeit empfinden, und wer strebt, wird unweigerlich sehen, wie in seinem ergebenen Leben die Reinheit dämmert.

Wir bitten die Leute, ihre Schuhe draußen zu lassen, bevor sie in den Meditationsraum kommen, weil wir hierher kommen, um nach Höherem zu streben. Wenn wir also aus diesem Grund hierher kommen, müssen wir auch unserem physischen Bewusstsein, unserem physischen Körper bewusst machen, das wir strebsam sind. Mit unseren Schuhen gehen wir den ganzen Tag auf schmutzigen Straßen umher. Wenn wir dann damit den Meditationsraum betreten und zu meditieren versuchen, wird all die Unreinheit der Straßen in das Bewusstsein des Raumes, in unser Bewusstsein und in das Bewusstsein aller Leute, die dort meditieren, eindringen. Das stört uns natürlich. Auch sollten wir unseren Meditationsraum als einen Altar, als einen heiligen Ort betrachten. Wir kommen hierher, um mit Gott in Verbindung zu treten. Wenn wir in eine Kirche treten, nehmen wir aus Respekt den Hut ab. Ebenso ziehen wir aus Respekt unsere Schuhe aus, bevor wir in den Meditationsraum eintreten.

Beim Meditieren versuchen wir, unser tierisches Bewusstsein weg zu werfen. Schuhe kommen von einem Tier. Wenn wir die Schuhe draußen lassen, sollten wir fühlen, das wir das tierische Bewusstsein draußen lassen und in das menschliche Bewusstsein eintreten. Wir lassen nicht nur die Tierhaut, sondern das ganze tierische Bewusstsein draußen. Dann versuchen wir während unserer Meditation einen Schritt weiter zu gehen: vom menschlichen Bewusstsein zum göttlichen Bewusstsein. Wir versuchen über das Menschliche in uns mit seinen Zweifeln, Furcht, Eifersucht und Sorgen hinauszugehen und in das Bewusstsein der Vollkommenheit einzutreten.

Vielleicht sagt euch euer praktischer Verstand: „Diese Schuhe helfen mir. Wenn ich keine Schuhe hätte, würde ich unter Hitze und Kälte leiden, wenn ich auf der Straße gehe. Warum sollte ich sie nicht auch brauchen, wenn ich meditiere?“ Wir können den Dingen, die uns helfen, unsere Dankbarkeit bezeugen, aber das heißt nicht, dass wir sie ständig bei uns haben müssen. Ein Besen hilft uns, das Haus zu reinigen, aber nachdem er seine Rolle gespielt hat, stellen wir ihn in eine Ecke, bis wir ihn wieder brauchen. Wir nehmen ihn nicht mit, wenn wir uns zum Essen hinsetzen. Auch im spirituellen Leben schätzen wir die Dinge, die uns helfen. Aber sie müssen ihren ganz bestimmten Platz haben.

Einst war das tierische Bewusstsein notwendig, um uns in Bewegung zu bringen. Ohne tierische Eigenschaften wären wir träge wie die Bäume geblieben, oder wir wären im Steinbewusstsein verharrt, wo keine Aktivität, keine Bewegung ist. Nun kann Bewegung entweder destruktiv oder dynamisch sein. Mit unserer dynamischen Bewegung versuchen wir, unserem Ziel entgegen zu laufen; mit unserer destruktiven Bewegung versuchen wir, andere und uns selbst zu zerstören. Leider sehen wir, dass die zerstörerische Eigenschaft im Tierreich weit verbreitet ist. Aber es ist besser, dieses tierische Bewusstsein zu haben, zu ringen und zu kämpfen, als im Steinbewusstsein zu verharren, wo es keine Bewegung, keinen Fortschritt gibt. Nun hat das tierische Bewusstsein seine Rolle gespielt und wir sind zum menschlichen Bewusstsein gelangt. Wir wissen, dass Bewegung notwendig ist, aber auch, dass sie dynamisch sein muss. Im menschlichen Bewusstsein versuchen wir durch dynamische Bewegung ein bisschen weiter zu gehen, aber unglücklicherweise liegt das tierische Bewusstsein immer noch schlafend in uns. Wir versuchen, unsere zerstörerische Eigenschaft durch unsere menschliche Dynamik zu reinigen. Dann versuchen wir, von der dynamischen Bewegung im Menschlichen zum Göttlichen zu gehen. Und wenn die dynamische Bewegung des Menschlichen in das Göttliche eintritt, erlangen wir vollkommene Vollkommenheit.

Schritt um Schritt befreien wir uns von früheren Helfern, die uns zum Erreichen unseres letzten Zieles nichts mehr nützen können. Häufig sind unsere menschlichen Helfer Freunde, aber wenn wir weiter und tiefer ins innere Leben gehen wollen, sehen wir, dass uns unsere menschlichen Freunde im Wege stehen. Das tierische Bewusstsein half uns, als wir versuchten, über das Pflanzenbewusstsein hinauszugehen, aber es zerrt uns nur rückwärts, wenn wir ins menschliche Bewusstsein eintreten. Je höher und je weiter wir deshalb gehen, desto mehr müssen wir darauf achten, ob uns unsere früheren Freunde noch von Nutzen sind oder nicht. Wenn sie uns überhaupt nicht mehr helfen können, werden wir sie hinter uns lassen und alleine vorwärts gehen.

Sri Chinmoy, Primer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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