Teil II — Die Bedeutung eines Gurus

Frage: Glaubst du, dass ein Suchender einen lebenden Guru braucht, um Gott zu verwirklichen?

Sri Chinmoy: Ein lebender Guru ist nicht absolut unerlässlich, um Gott zu verwirklichen. Der erste Mensch auf Erden, der Gott verwirklichte, die allererste verwirklichte Seele, hatte keinen menschlichen Guru. Er hatte Gott allein als seinen Guru.

Wenn du jedoch einen Guru hast, erleichtert das deinen inneren spirituellen Fortschritt. Ein Guru ist dein Privatlehrer im spirituellen Leben. Zwischen einem Privatlehrer und einem gewöhnlichen Lehrer besteht ein großer Unterschied. Ein gewöhnlicher Lehrer schaut auf das Heft des Schülers und gibt ihm eine Note. Er prüft den Schüler und lässt ihn bestehen oder durchfallen. Aber der Privatlehrer ist nicht so. Er ermutigt den Schüler zu Hause und gibt ihm Anregungen, so dass er seine Prüfung bestehen kann. Auf deiner Lebensreise versucht die Unwissenheit jeden Augenblick, dich zu testen, zu prüfen und zu quälen, aber dein Privatlehrer wird dich lehren, wie du die Prüfung auf die leichteste Weise bestehen kannst. Es ist die Aufgabe des spirituellen Lehrers, den Suchenden zu inspirieren und seine Strebsamkeit zu fördern, damit er das Höchste zu Gottes auserwählter Stunde verwirklichen kann.

Für alles, was wir in dieser Welt lernen wollen, brauchen wir am Anfang einen Lehrer. Um das ABC zu lernen, brauchen wir einen Lehrer. Um höhere Mathematik zu erlernen, brauchen wir einen Lehrer. Der Lehrer mag für eine Sekunde benötigt werden, für ein Jahr, oder für viele Jahre. Es ist absurd zu glauben, man brauche für alles im Leben einen Lehrer, außer um Gott zu verwirklichen. So wie wir Lehrer für unser äußeres Wissen brauchen, um unser äußeres Wesen zu erleuchten, so brauchen wir auch einen spirituellen Meister, der uns in unserem inneren Leben hilft und führt, vor allem am Anfang. Ansonsten wird unser Fortschritt sehr langsam und ungewiss sein. Wir werden leicht schrecklich verwirrt. Wir werden hohe, erhebende Erfahrungen machen, aber wir werden ihnen nicht die ihnen gebührende Bedeutung zumessen. Zweifel kann unseren Verstand verfinstern und wir werden sagen: „Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch; wie kann ich solche Erfahrungen haben? Vielleicht täusche ich mich.” Oder wir erzählen es unseren Freunden, und die sagen: „Das ist alles nur ein Hirngespinst. Lass doch das spirituelle Leben.” Aber wenn es jemanden gibt, der die Wirklichkeit kennt, wird er sagen: „Handle nicht wie ein Narr. Die Erfahrungen, die du gehabt hast, sind absolut wirklich.“ Er ermutigt den Suchenden, inspiriert ihn und gibt ihm die richtigen Erklärungen für seine Erfahrungen. Außerdem wird er in der Lage sein, den Sucher zu korrigieren, wenn er in seiner Meditation irgend etwas falsch macht.

Eine Seele tritt in einen menschlichen Körper ein und dieser Mensch vollendet sein erstes, sein zweites Lebensjahr usw. Während dieser Zeit lehren ihn seine Eltern sprechen, essen, sich zu kleiden und zu benehmen. Das Kind lernt alles von seinen Eltern; sie spielen in diesen formenden Jahren eine wichtige Rolle. Im spirituellen Leben ist es ebenso, der spirituelle Meister lehrt den Schüler auf dieselbe Weise beten, meditieren und kontemplieren. Dann, wenn der Schüler lernt, tief in sich zu gehen, kann er all das selbst tun.

Warum geht jemand an die Universität, wenn man zu Hause studieren könnte? Man tut es, weil man annimmt, von Leuten, die dieses Fach gut kennen, unterwiesen zu werden. Nun du weißt, dass es ein paar wenige – sehr, sehr wenige – wirklich weise Männer gegeben hat, die nicht an eine Universität gegangen sind. Ja, es gibt Ausnahmen. Jede Regel lässt Ausnahmen zu. Gott ist in allen, und wenn ein Sucher glaubt, keine menschliche Hilfe zu benötigen, dann ist er herzlich eingeladen, seine Fähigkeiten alleine zu testen. Aber wenn jemand weise genug ist und zu seinem Ziel laufen will, statt zu stolpern oder nur langsam zu gehen, dann kann ein Guru von beträchtlicher Hilfe sein.

Im Augenblick bin ich in London. Ich weiß, dass es New York gibt und dass ich dorthin zurück muss. Was brauche ich, um dorthin zu gelangen? Ein Flugzeug und einen Piloten. Trotz der Tatsache, dass ich weiß, dass New York existiert, kann ich nicht alleine dorthin gehen. Ebenso weißt du, dass Gott existiert. Du willst zu Gott gelangen, aber jemand muss dich dahin bringen. So, wie mich das Flugzeug nach New York bringt, muss dich jemand zum Bewusstsein Gottes bringen, das tief in dir liegt. Jemand muss dir zeigen, wie du in deine eigene Göttlichkeit hineinwachsen kannst, die Gott selbst ist.

Ein spiritueller Meister kommt mit einem Boot zu dir. Er sagt: „Komm. Wenn du ans goldene Ufer gelangen willst, werde ich dich dahin bringen. Mehr noch, wenn du einmal in meinem Boot bist, kannst du singen, tanzen, sogar schlafen, dennoch werde ich dich sicher ans Ziel bringen.“ Wenn du sagst, du brauchst keine Hilfe, wenn du allein über das Meer der Unwissenheit schwimmen willst, dann steht es dir frei. Aber wie viele Jahre, wie viele Inkarnationen wird es dauern? Nachdem du eine Zeit lang geschwommen bist, wirst du zudem möglicherweise völlig erschöpft sein, und vielleicht gar ertrinken.

Wenn jemand ein wahrer Schüler eines Meisters wird, hat er nicht das Gefühl, er und sein Meister seien zwei völlig verschiedene Wesen. Er sieht seinen Guru nicht auf der Baumkrone und sich selbst am Fuße des Baumes, ununterbrochen die Füße seines Meisters waschend. Nein! Er empfindet seinen Guru als seinen eigenen höchsten Teil. Er fühlt, dass er und sein Guru eins sind, dass der Guru der höchste und am weitesten entwickelte Teil seiner selbst ist. Daher findet es ein wahrer Schüler nicht schwierig, seinen niedrigen Teil seinem höchsten Teil unterzuordnen. Es liegt nicht unter seiner Würde, ein ergebener Schüler zu sein, weil er weiß, dass sowohl das Höchste wie das Niedrigste ganz ihm selbst gehören.

Sri Chinmoy, Primer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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