Die Liebe eines Kindes zu Gott

Ich erzähle diese Geschichte für Kinder. Doch da wir aber alle Gottes Kinder sind, ist diese Geschichte für jeden von uns zutreffend. Ihr habt viele Geschichten gehört, über die Liebe, die ein Kind zu Gott haben kann. Aber diese Geschichte ist besonders bezeichnend, spezielle für jene, die das spirituelle Leben in jungen Jahren angenommen haben. In dieser Geschichte erfahrt ihr, wie die Liebe eines kleinen Mädchens zu Gott stetig wuchs und wuchs, als sie älter wurde.

Ich bin sicher, dass einige von euch den Namen Mirabei schon gehört haben. Mirabei war eine Gott-hingegebene Person von hohem, höherem, höchstem Rang. Unter den Heiligen Indiens ist sie absolut unerreicht. Sie komponierte viele, viele Bhajans, das sind andächtige Lieder, die an Gott gerichtet sind. Jedes Lied das Mirabei schrieb, drückt ihre Inspiration, ihr inneres Streben und ihre schlaflose Selbsthingabe aus.

Mirabei stammte aus einer königlichen Familie aus Rajastan. Der Name ihres Vaters war Ratna Singh. Er war oft von zu Hause weg und kämpfte mit den mongolischen Kaisern. Er war ein sehr tapferer Krieger. Eines Tages kam ein heiliger Mönch, um ihre Eltern zu besuchen. Er blieb einen Tag als besonderer Gast in ihrem Palast. Der heilige Mönch war über die Edelmütigkeit und die frommen Eigenschaften ihres Vaters sehr erfreut. Als der Mönch weiterzog, schenkte er Ratna Singh eine sehr schöne Puppe bzw. Statue von Lord Krishna. Krishna ist die Verkörperung von Gott.

Zu dieser Zeit war Mirabei erst drei Jahre alt. Sie wollte so gerne die Puppe haben, die ihr Vater bekommen hatte, aber er wollte sie ihr nicht geben. Ihr denkt vielleicht, der Vater war gemein. Doch der Vater hatte zwei bestimmte Gründe, weshalb er die Puppe behalten wollte. Der erste Grund war, dass die Puppe, da sie von einem Sadhu oder heiligen Mann kam, einen ganz besonderen Segen hatte. Ratna Singh wollte diesen Segen bewahren, nicht aus Geiz, sondern aus dem Grund, dass die Puppe jederzeit verehrt werden konnte. Der andere Grund, weshalb er ihr die Puppe nicht geben wollte, war, weil er dachte, Mirabei würde die ganze Zeit mit ihr spielen.

Als Mirabai feststellte, dass der Vater ihr die Puppe nicht geben wollte, aß sie nichts mehr. Was konnte der arme Vater da tun? Da sie das Essen verweigerte, gab er ihr die Puppe. Von da an spielte Mirabai immer mit ihrer Puppe. Sie sprach mit der Puppe und sang für sie; sie liebte diese Puppe so sehr.

Als Mirabei fünf Jahre alt war, zog zufällig eine Hochzeits-Prozession vor dem Palast ihres Vaters vorbei. Mirabai fragte ihre Mutter: „Was ist da los?“

Ihre Mutter antwortete: „Das ist eine Hochzeit. Diese zwei Menschen heiraten.“

Aus Neugierde fragte Mirabai ihre Mutter: „Wen werde ich heiraten?“

Aus irgendeinem Grund antwortete ihre Mutter: „Du bist schon verheiratet, mein Kind.“
„Wer ist mein Mann?“, rief Mirabai.

„Diese Puppe, Lord Krishna, ist dein geliebter Mann“, sagte ihre Mutter. Mirabai freute sich so darüber, zu hören, dass Krishna ihr Ehemann war.

Als die Zeit voranschritt, wurden Mirabais Gebete stärker und auch seelenvoller. Jeden Tag, am Schluss für Stunden, sprach sie zu der Puppe, sang und tanzte vor der Puppe. Sie benahm sich, als ob die Puppe ein wirklicher Mensch sei. In ihrem Fall war diese Puppe ein menschliches Wesen. Lord Krishnas lebendige Gegenwart war in der Puppe.

Ihr Großvater und die anderen Mitglieder der Familie waren verwirrt. Was sollten sie mit diesem kleinen Mädchen tun? So fassten sie den Entschluss, dass es für Mirabei umso besser wäre, je früher sie verheiraten würde. Wenn die Liebe zu ihrem Mann stärker würde, dann würde sich vielleicht ihre Hingabe zu dieser Puppe verringern. Außerdem würde sie sich vieler Pflichten im Haushalt annehmen müssen.

Zu diesem Zeitpunkt war Mirabai acht Jahre alt. Aber in jenen Tagen war es für Eltern normal, die Hochzeit ihrer Kinder zu arrangieren, wenn diese noch sehr jung waren.

So wurde Mirabai mit dem Prinzen Bhoja Raj verheiratet. Er war der älteste Sohn von Rana Sanga von Chittor. Der Regent von Chittor wurde als Führer der königlichen Hindu-Häuser angesehen und so stieg Mirabai durch diese Heirat in eine sehr hohe soziale Position auf.

Mirabais Ehemann war ein sehr großer Krieger. Während des Tages führte Mirabai ihre Pflichten aus und hörte ergeben auf ihre Schwiegermutter. Dann am Abend nahm sie ihre kleine Puppe mit in den Tempel. Dort konnte sie mit der Puppe sprechen, singen und tanzen.

Leider billigte das ihre Schwiegermutter überhaupt nicht. Sie sagte zu Mirabai: „Du kannst nicht zu später Stunde fernbleiben. Du bist noch ein kleines Mädchen. Du musst zu Hause bleiben und schlafen gehen.“

Aber Mirabai beharrte darauf: „Ich will jede Nacht in den Tempel gehen und beten.“

Ihre Schwiegermutter brachte einen anderen Einwand. „Du betest zu Krishna, aber Krishna ist nicht die Gottheit unserer Familie. Unsere Gottheit ist Gauri, ein Aspekt von Durga und Durga ist die Gemahlin von Lord Shiva. Du kannst also in unserer Familie nicht weiterhin zu Krishna beten.“

Mirabai schenkte ihrer Schwiegermutter keine Beachtung. Sie sagte: „Nein, ich werde nicht auf dich hören. Mein Geliebter ist Lord Krishna. Zu ihm muss ich beten.“

So hatten Mirabai und ihre Schwiegermutter einen ernsthaften Streit. Doch von da an blieb die Schwiegermutter still und erlaubte Mirabai, mit ihren spirituellen Aktivitäten fortzufahren.

Mirabai war sehr glücklich. Während des Tages arbeitete sie und am Abend konnte sie in den Tempel gehen, um dort zu meditieren und mit ihrem Lord Krishna zu singen und zu tanzen.

Sie verehrte Krishna als Gopala Giridhara – den jungen Kuhhirten, der am Ufer des Jamuna-Flusses in Brin­daban seine Flöte spielte. Brindaban war Krishnas Heimat während seiner Kindheit. Um seine Verehrer vor einer Überschwemmung zu schützen, hob Er einmal einen Berg hoch, so dass sie darunter Schutz finden konnten. Das ist die Bedeutung des Beinamens Giridhara. Wenn Mirabai ihre Puppe anbetete, erschien Lord Krishna in dieser Form vor ihr. Dann spielte er mit ihr und sprach zu ihr.

Dann kam es, dass die Schwester ihres Mannes sehr, sehr eifersüchtig auf Mirabai wurde. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter geäußert hatte, dass Mirabai sehr spirituell sei und die ganze Zeit mit Gott spreche. Diese Schwägerin wollte Mirabai bestrafen. Also begann sie Gerüchte in die Welt zu setzen, dass Mirabai einige Liebhaber hätte. Sie erzählte den Leuten, dass Mirabai diese Liebhaber in der Nacht in den Tempel brächte und dort mit ihnen zu-sammen sei. Mirabai hörte von diesen Hofgerüchten, schenkte ihnen aber Beachtung. Sie war zu dieser Zeit zwölf oder dreizehn Jahre alt.

Eines Tages sagte diese unerträgliche Schwägerin zu Mirabais Ehemann: „Bist du blind? Deine Frau hat so viele Freunde. Ich kann es leicht beweisen. Gehe nur und schau, was sich in der Nacht im Tempel abspielt.“

Mirabais Ehemann wurde wütend und wartete in dieser Nacht vor dem Tempel. Als er Mirabai mit jemandem sprechen hörte, brach er die Tempeltüre auf und stürzte mit blankem Schwert hinein. Mirabai hatte mit Lord Krishna gesprochen. Er war ihr in seiner himmlischen Form erschienen. Aber sobald der Ehemann kam, verschwand er. Mirabais Mann sah nur seine Frau und ihre kleine Puppe; es waren keine anderen Menschen mehr anwesend. Er lachte und sagte: „Meine Schwester hat mir lauter Lügen erzählt!“ Dann ging er fort. Nachdem er gegangen war, rief und rief Mirabai nach ihrem Lord Krishna: „Wo bist du hingegangen, wo bist du hingegangen?“

Nach dieser Episode fuhr ihre Schwägerin fort, boshafte Geschichten über Mirabai zu erzählen. Es war Mira­bai zu viel, aber was konnte sie tun? Zumindest konnte sie jeden Abend zum Tempel gehen und ihren Geliebten Lord auf ihre Weise anbeten.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Mirabei schon einige seelenvolle Bhajans komponiert. Die Menschen begannen ihre Lieder auf der Straße zu singen. Sie waren alle sehr stolz auf sie.

Zu dieser Zeit folgte Akbar seinem Vater auf den Thron als Kaiser der Mongolen. Obwohl er ein Moslem war, liebte er die Kultur der Hindus. Auf seinem Hof hatte er alle Arten von talentierten und außergewöhnlichen Menschen aus verschiedenen Religionen in seinen Diensten gestellt. Akbar schätzte immer die guten Eigenschaften der anderen. Im Laufe der Zeit vernahm er auch Kunde über Mirabai. Deshalb wollte er hingegen und sie sehen.

Zuerst hatte es den Anschein, dass es unmöglich ist, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Mirabais Familie und die Mongolen-Kaiser waren seit je her die schlimmsten Feinde gewesen! Wenn er ging, um Mirabai zu sehen, würde er sein Leben riskieren und auch Mirbai in große Gefahr bringen. Aber Akbar war entschlossen zu ihr zu gehen. Er werde in Verkleidung gehen.

Deshalb legten er und sein Musiker Tansen - wie wandernde Mönche - ockerfarbene Gewänder an. In dieser Verkleidung näherten sie sich dem Tempel, in dem Mirabai lebte. Im Tempel sangen und tanzten die Verehrer. In der Mitte sang Mirabai äußerst seelenvoll.

Akbar und Tansen waren tief bewegt von Mirabais Stimme und ihren Gebeten. Um seine Dankbarkeit zu zeigen, legte Akbar eine diamantene Halskette zu Füßen von Mirabais kleiner Statue von Krishna. Die Menschen, die zugegen waren, waren erstaunt über die Gesten des Bettlers. Sie fragten sich, ob vielleicht eine reiche Person in Form eines Bettlers gekommen sei. Akbar und Tansen gingen dann fort.

Nach ein paar Tagen wurde bekannt, dass es der Kaiser selbst war, der gekommen ist. Mirabais Mann wurde wütend und sagte zu seiner Frau: „Du hast die schlimmstmögliche Sünde begangen. Du bist eine Hindu-Prinzessin, aber du hast einem Moslem erlaubt, dein Gesicht zu sehen. Ich kann dich nicht mehr ansehen. Du musst zum Fluss gehen und dich darin ertränken.“

Arme Mirabai! Sie war so unglücklich über die Wendung der Ereignisse. Was geschehen war hatte nicht sie zu verantworten. Aber sie war trotzdem bereit, in den Fluss zu gehen und Selbstmord zu begehen. So ging sie zum Fluss, begleitet von ihren Anhängern und Verehrern. Als sie gerade dabei war, in den Fluss zu steigen, erschien Lord Krishna und ergriff sie. Er sagte zu seiner liebsten Verehrerin: Nein, ich möchte nicht, dass du Selbstmord begehst. Du hast nichts Falsches getan. Bitte verlasse diesen Ort und komme nach Brindaban. Dort wirst du mich sehen.“

So verließ Mirabai ihren Ehemann und ging mit einigen Anhängern nach Brindaban. Dort konnte sie ihre ganze Zeit verwenden, um Krishna zu verehren und Krishnas Bhajans zu singen. Ihre Bhajans waren einfacher als das Einfachste. Manchmal bestanden sie nur aus vier oder fünf Worten. Manchmal bestanden sie nur aus ihrem Namen und Lord Krishnas Namen: „Mira Gopala Giridhara.“ Auf diese Weise sang und sang sie auf ihre ergebene Weise. All die Anwesenden war so zufrieden mit ihr, so stolz auf sie und waren ihr auch sehr dankbar.

Mittlerweile fühlte sich Mirabais Ehemann unglücklich. Er verstand nun, wie rein und religiös seine Frau war. Ihr Name wurde schnell zu einem Begriff. Er wollte nicht mehr auf den Rat seiner Verwandtschaft hören. So machte er sich auf nach Brindaban und brachte Mirabai zurück in den Palast. Dort behandelte er sie gut und erlaubte ihr, ihre Gebete im Tempel fortzusetzen. Doch der Rest der Verwandtschaft behandelte Mirabei nicht gut.

Mirabei war erst dreiunddreißig Jahre alt, als Bhoja Raj verstarb. Dann ging der Thron an einen Verwandten über, der sich äußerst ungöttlich gegenüber Mirabai benahm. Als dieser Verwandte mitbekam, dass jedermann Mirabeis spirituelle Eigenschaften schätzte, war das zu viel für ihn. Die Flamme der Eifersucht brannte in ihm und er fasste den Vorsatz, sie zu töten. Er wusste, dass sie in den frühen Morgenstunden gewöhnlich stundenlang zu Lord Krishna betete und den Schrein mit den herrlichsten Blumen schmückte. Daher schickte er ihr eines Tages einen Korb mit Blumen als Geschenk. In den Blumen verbarg er eine giftige Schlange. Er wusste genau, dass sie Mirabai beißen würde, sobald sie die Blumen im Korb berührte.

Doch dann ist etwas Wunderbares geschehen. Als Mirabai ihre Hand auf die Blumen legte, verwandelte sich auch die Schlange in Blumen. Es ist ihr nichts dabei passiert. Der König konnte nicht fassen, dass er sein Ziel verfehlt hatte.

Einige Tage später ließ er ihr eine Tasse Milch überbringen. Er schickte sie mit der Nachricht, dass er so zufrieden und glücklich mit ihr sei. Doch in der so genannten reinen Milch war ein sehr starkes Gift enthalten.

Lord Krishna kam zu Mirabai und warnte sie vor dem Gift in der Milch. Dann sagte er ihr, dass sie die Milch trotzdem trinken solle. Lord Krishna versicherte ihr, dass er sie beschützen werde. Nachdem sie ihre Anbetung beendet hatte, trank sie den Inhalt der Tasse. Aber Krishna hatte das Gift in Nektar verwandelt. Es erübrigt sich zu sagen, dass Mirabei nichts geschah.

Der König unternahm viele andere Dinge, um Mirabai zu quälen, aber Lord Krishna beschützte sie jedes Mal. Letztendlich suchte Mirabai einige spirituelle Meister auf, um bei ihnen nachzufragen, was sie tun solle. Alle gaben ihr den Rat, den Palast zu verlassen. Nach langen Jahren des Leidens machte sich Mirabai zu Fuß auf, und kehrte zurück nach Brindaban. Zu dieser Zeit hatte sie viele, viele Anhänger und in ganz Indien hörte man ihre Bhajans. Besonders die Anhänger von Krishna waren so stolz auf sie und waren ihr so dankbar, weil Mirabeis Hauptthema war: „Krishna ist mein Alles; Gopa ist mein Alles!“

Eines Tages, viele Jahre danach, sang Mirabai im Tempel. Es waren einige Verehrer um sie herum, die auch sangen. Lord Krishna war so zufrieden mit Mirabai, dass er in seiner subtilen menschlichen Form vor ihr erschien. Diese Form ist so greifbar, wenn das dritte Auge bei jemandem geöffnet ist. Mirabai war in der Lage, ihren Lord zu sehen, doch die anderen hatten nicht die subtile Sicht, ihn zu sehen. Jedoch sahen sie einiges in ihr.

Lord Krishna öffnete sein Herz-Chakra. Dann trat Mirabai in sein Herz ein und verschwand. So ging sie hin­über ins Jenseits. Zu diesem Zeitpunkt war sie in einem hohen, ekstatischen Bewusstsein. Mit ihrem physischen Körper verschmolz sie mit seinem und verschwand.

So endet die Geschichte.

Sri Chinmoy, Was immer du willst, Gott gibt es, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
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