Frage: Die großen Seelen möchten nicht zurückkommen, weil es zu entmutigend ist?

Sri Chinmoy: Die großen Seelen sind sehr entmutigt, da sie Leid erfahren haben. Gewöhnliche Menschen leiden auch, aber die höheren Seelen leiden noch viel mehr. Nur wenn jemand Gott verwirklicht hat, wenn er sein Einssein mit einer höheren Macht errichtet hat, besitzt er einen Raum, in den er sich retten kann. Wenn ich meinem Bruder Chitta meine Probleme erzähle, sagt er: „Du kannst entkommen, aber wir nicht. Du hast einen besonderen Raum, den du aufsuchen kannst. Du kannst dich dort verstecken, aber wir können das nicht.“ Aber andererseits, wenn jemand echte Sympathie, Zuneigung und Liebe für die Menschheit empfindet, dann möchte er sich nicht in einen anderen Raum zurückziehen. Ein spiritueller Meister gleicht einer Mutter. Eine Mutter wird von ihrem unartigen Kind wieder und wieder zurückgestoßen, doch sie wendet sich ihm immer und immer wieder zu, obwohl sie so schlecht behandelt wird.

Ich sagte, dass ich keine weitere menschliche Inkarnation mehr annehme. Swami Vivekananda sagte, dass er zurückkommen würde, solange auch nur ein Hund unverwirklicht bliebe. Zählt nun einmal die Hunde auf dieser Welt! Und Swami Vivekananda ist definitiv noch immer in der Seelenwelt. Er ist nicht zurückgekommen. Sri Ramakrishna zeigte auf der Landkarte auf einen bestimmten Ort und sagte, dass er dort eine Inkarnation annehmen würde. Dieser Ort befand sich in Russland. Sri Ramakrishna ist nicht dorthin gegangen. Meine Schwester sagte zu mir: „Er hat dich nach Russland geschickt; das genügt.“

Ich mache ihnen wegen ihrer Versprechungen keine Vorwürfe. Ihr Versprechen gründete sich auf ihre Anteilnahme, auf ihr Mitgefühl, auf ihre Zuneigung und auf ihre Liebe zur Menschheit. Diese Dinge sind absolut wahr. Aber wenn sie in die Seelenwelt gelangen, werden sie ganz weise. Sie sagen: „Die Menschheit wird uns wieder mit Füßen treten, weshalb sollten wir also zurückkehren?“

Diese Welt wird niemals für spirituelle Meister bereit sein. Warum? Weil derjenige, der das Licht besitzt, der Menschheit immer einen Schritt voraus ist, und diejenigen, die hinter ihm sind, nicht zu ihm aufschließen können. Wenn er versucht, den Menschen hinter ihm Licht zu geben, nehmen sie es in den meisten Fällen nicht an; es ist zu viel für sie, zu viel. Selbst wenn der Mensch, der vorne steht, nur ein Fünkchen von Licht geben möchte, ist es vielleicht schon zu viel. Das innere Gefäß könnte zerbrechen. Was kann der spirituelle Meister da tun? Er ist nicht erschienen, um die Menschen zu zerbrechen; er ist hier, um die Menschen zu erleuchten.

Die Menschen glauben nicht an das, was gut für sie ist. Jeder möchte auf seine eigene Art und Weise glücklich sein; das ist es. Die meisten Menschen wollen ihr Glück nicht in der Anrufung eines höheren Lichtes finden. Die menschliche Art und Weise ist aber nichts anderes als die Erfüllung von Begierden. Und wenn seine Begierden erfüllt sind, weint der Mensch und weint und weint. Dann macht er Gott dafür verantwortlich und sagt: „O Gott, wieso hast du mir diesen Wunsch erfüllt, wenn du mich wirklich liebst?“

So viele Menschen geben Gott die Schuld, wenn Er ihre Wünsche erfüllt. Was kann der arme Gott dafür? Ganz gleich, was Er tut, es ist nie richtig. Dann gibt es aber auch noch andere Sucher, aufrichtige Sucher, die sagen: „Ganz gleich, was Gott tut, es ist für mich das Beste.“ Es hängt ganz vom individuellen Bewusstsein ab.

Sri Chinmoy, Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
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