Die Avatare

Frage: Welche Kriterien gibt es, um einen Avatar zu erkennen?

Sri Chinmoy: Als Vivekananda einmal Ostbengalen besuchte, kamen viele Schüler anderer Meister zu ihm. Sie baten ihn, ihren Meister, den sie als Avatar betrachteten, zu besuchen. Sie sagten: „Bitte komm und besuche meinen Guru. Er ist zweifellos ein Avatar.“ Einen Augenblick später sagte ein anderer: „Mein Guru ist ein Avatar. Ich weiß es. Komm bitte und besuche ihn.“ Deshalb sagte Vivekananda, in Ostbengalen würden Avatare wie Pilze aus dem Boden schießen.

Leider wird das Wort Avatar in der westlichen Welt nicht verstanden. Es wird viele Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte brauchen, bevor man das Wort Avatar verstehen wird. Vergebt mir, wenn ich so offen bin. Es gibt viele Worte, die sehr bedeutend und wichtig sind, die aber im spirituellen Bewusstsein so schwierig sind, dass ein gewöhnlicher Mensch sie nie verstehen wird. Das Wort Avatar ist eines dieser Worte, vielleicht das schwierigste aller Worte. Ihr wisst, wie man es buchstabiert, doch um die höchste Natur eines Avatars zu erkennen, muss man fast ein spiritueller Heiliger werden.

Der Unterschied zwischen einem Yogi und einem Avatar ist wie der Unterschied zwischen einem Kind und einem reifen Erwachsenen. Um auch nur die geringste Ahnung davon zu erhalten, was ein Avatar verkörpert, muss man ein sehr hohes spirituelles Bewusstseinsniveau besitzen. Sri Krishna war ein Avatar, doch nur fünf Menschen erkannten ihn. Sri Ramakrishna war ein Avatar, aber sehr wenige erkannten ihn. Christus war ein Avatar, doch nur wenige Menschen erkannten ihn. Selbst diese Avatare befinden sich nicht auf demselben Niveau. Wenn jemand einige Zentimeter unter oder über euch ist, könnt ihr das erkennen. Einen Weisen, einen Heiligen, selbst einen Yogi könnt ihr erkennen. Doch ein Yogi ist unendlich viel mehr als ein Weiser oder ein Heiliger. Ein Yogi ist jemand, der mit dem Höchsten vereint ist. Ein Avatar wiederum ist eine direkte Verkörperung Gottes, ein inkarnierter Teil Gottes, der ständig zugleich im Höchsten und im Niedersten wirkt. Die Yogis halten sich auf einem bestimmten hohen Niveau auf und wirken dort. Wenn sie von diesem Niveau herabkommen, um die Menschheit emporzuheben, fällt es ihnen sehr schwer, wirkungsvoll zu handeln. Oft verfangen sie sich in den niederen Ebenen und sind dann verloren. Gewöhnlich halten sie sich auf einem bestimmten Be­wusst­seinsniveau auf und wenn es Suchern gelingt, dieses Niveau zu erreichen, können sie ihnen helfen.

Ein Avatar hingegen kann zugleich im Höchsten und Niedersten bleiben und selbst wenn er auf der niedersten Ebene arbeitet, wird er von ihr nicht beeinträchtigt.
Ein Avatar ist ein Mensch. Er spricht, isst und hat Humor. Wenn ein Avatar ins Höchste eintritt, geht er weit über die Reichweite unserer Vision hinaus. Falls ihr je auch nur den kleinsten Schimmer der höheren Welt erhaltet, zu denen ein Avatar freien Zutritt hat, werdet ihr fühlen, dass euer gesamtes Leben Gegenstand vollständiger Hingabe zu Füßen eures Meisters wird. Selbst wenn der Meister euch einen Tritt gibt oder euch aus seinem Center wirft, werdet ihr ihm treu bleiben, denn ihr habt von ihm etwas erhalten, das ihr von niemandem sonst auf der Erde erhalten könnt.

Wenn ein Avatar auf der Erde ist, verkörpert er das Bewusstsein aller anderen Avatare, die auf die Welt gekommen sind. Als Sri Ramakrishna auf seinem Sterbebett lag und sein liebster Schüler, Vivekananda, selbst in diesem letzten Augenblick noch an ihm zweifelte, sagte Sri Ramakrishna: „Derjenige, der Rama war und derjenige, der Krishna war, ist nun in einer Form Ramakrishna.“ Im Osten ist es einfacher zu glauben, dass Rama in mir ist, dass Krishna in mir ist, dass Ramakrishna und alle anderen Avatare in mir sind. Im Westen kennen wir leider nur einen Avatar: Christus. Entweder nehmen wir ihn an oder wir lehnen ihn ab. Wenn wir ihn annehmen, gibt es gemäß der kirchlichen Doktrin keinen anderen spirituellen Meister für uns. Wenn wir ihn jedoch ablehnen, werden wir vielleicht auf einen anderen spirituellen Meister aufmerksam.

Christus, Buddha, Sri Krishna und alle großen spirituellen Meister kamen von derselben göttlichen Quelle. Wenn wir sagen, Christus sei der einzige Retter, dann wird ein Jünger Krishnas sofort widersprechen: „Nein, Krishna ist der einzige Retter.“ Hier beginnt das Problem. Wir sollten fühlen, dass der Supreme der einzige Retter ist. Er ist es, der in die Form eintrat, die wir Christus nennen. Er trat in die Gestalt Krishnas, in die Gestalt Ramakrishnas und so weiter ein. Auf diese Weise gehen wir alle zum Supreme. Das letzte Ziel ist der Supreme. Wie wir sind auch Krishna, Buddha und alle Avatare von Ihm gekommen und zu Ihm müssen wir alle gehen.

Sri Chinmoy, Avatare und Meister, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
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