Frage: Wie kann ein Schüler die Kraft der steten Erinnerung und der bedingungslosen Hingabe gegenüber dem Willen des Supreme erlangen?

Sri Chinmoy: Betrachten wir zuerst die Kraft der Erinnerung. Wir können uns die Kraft der Erinnerung nur dann aneignen, wenn wir einem Gegenstand oder einem Thema Bedeutung zumessen. Wenn uns Hunger quält, erinnern wir uns, dass es so etwas wie Nahrungsmittel gibt. Bei wahrem Hunger stellt sich die Erinnerung ein. Wenn ein Kind hungrig ist, schreit es sofort nach der Mutter, damit sie ihm Milch gibt. Sein Hunger ist dermaßen dringlich, dass es keine weitere Sekunde Aufschub erträgt. Erinnerung stellt sich also ein, wenn wir den Dingen, die wir benötigen, gebührende Wichtigkeit beimessen.

Manchmal sagen wir, dass wir etwas ganz Dringendes zu erledigen gehabt hätten, es aber vergessen haben. Wenn wir jedoch tief nach innen gehen, werden wir erkennen, dass wir die wichtige Sache nicht vergessen haben. Wir haben ihr nur nicht die angemessene Aufmerksamkeit geschenkt. Kann es im Leben eines spirituellen Menschen etwas Wichtigeres geben als Gott? Kann es irgendetwas geben, dass bedeutungsvoller, sinnvoller und fruchtbarer ist als Gott? Nein. Warum vergessen wir dann Gott? Weil wir Ihm nicht die angemessene Bedeutung zugestehen. Leidet der Körper Hunger, so denken wir ans Essen, doch wenn die Seele hungrig ist, erkennen wir dies nicht. Der Grund liegt darin, dass wir uns nicht mit der Seele identifizieren. Sobald wir wissen, wie wir uns mit der Seele identifizieren können, die sich ständig nach der Manifestation des göttlichen Lichts verzehrt, werden wir uns immer an den Supreme, unseren ewigen Guru, erinnern. Wir werden uns dann stets unweigerlich daran erinnern.

Eine andere Sache ist die bedingungslose Hingabe. Bedingungslose Hingabe gelingt uns nur dann, wenn wir die Kraft der Dankbarkeit entwickeln, wenn wir die Notwendigkeit zur Dankbarkeit ständig in uns fühlen. Millionen von Menschen beten und meditieren nicht, wir jedoch beten und meditieren und versuchen, Gott zu verwirklichen. Jeden Morgen sollten wir daher dankbar sein, dass wir etwas tun, was unsere Freunde und Verwandten nicht tun. Das bedeutet, es existiert jemand, der wirkliche Güte und wirkliches Mitgefühl entgegen bringt. Sobald wir das spüren, werden wir bemerken dass sich die bedingungslose Hingabe automatisch entwickelt.

Wir haben in unserem Leben vieles versucht, sind jedoch gescheitert. Wir stellen uns vielleicht die Frage: „Wie kommt es, dass wir gescheitert sind, obgleich wir es so aufrichtig versucht haben?“ Hier muss uns klar sein, dass das, was wir Aufrichtigkeit nennen, vielleicht gar keine Aufrichtigkeit ist. Wir können aus Gier oder aus einem persönlichen Bedürfnis heraus Dingen nachgehen, aber dies muss nicht der Notwendigkeit Gottes entsprechen. Dann gibt es wiederum viele Dinge, die wir zwar erreicht, denen wir aber keine Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Bedingungslose Hingabe schießt wie ein Pilz aus dem Boden, wenn wir jeden Tag früh am Morgen aufstehen, um zu beten und zu meditieren. Wer zwingt uns aufzustehen? Es ist unser inneres Wesen. Wir empfinden einen inneren Drang, am Morgen aufzustehen und zu meditieren, während unsere Nachbarn noch tief und fest schlafen. Wenn wir alles, was wir haben und alles, was wir in diesem Moment sind, dem bewussten und wohlwollenden Willen Gottes zusprechen können, werden wir bemerken, wie sich in unserem Herzen die Dankbarkeitsblume Blütenblatt für Blütenblatt entfaltet. Und aus dieser Dankbarkeitskraft wird bedingungslose Hingabe entstehen.

Sri Chinmoy, Schöpfung und Vollkommenheit, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2017
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