Frage: Wird die Kundalini automatisch erweckt, wenn man in das spirituelle Leben eintritt, oder geschieht dies nur bei bestimmten Menschen?

Sri Chinmoy: Es gibt verschiedene Wege, die zum Ziel führen. Kundalini ist ein Pfad, der besondere Kräfte schenkt, doch es gibt andere Pfade, die ähnliche Kräfte verleihen. Sagen wir, drei Straßen führen zum selben Ziel. Eine Straße ist von zahlreichen Bäumen und Blumen gesäumt, an der zweiten wachsen nur wenig Bäume und Blumen und an der dritten wächst überhaupt nichts. Während du dem Kundalini-Pfad folgst, begegnest du einigen Kräften, doch diese Kräfte sind mit Sicherheit nicht die höchste Kraft. Für diejenigen, die keine spirituellen oder okkulten Kräfte besitzen, erscheint die Kraft der Kundalini gewaltig. Doch im Vergleich zur Kraft des Zieles ist die Kundalini-Kraft bedeutungslos.

Auf anderen Wegen findet man diese okkulte Kraft nicht. Die Straße ist frei und man marschiert einfach voran und erreicht schließlich sein Ziel. Wenn man es erreicht hat, erhält man die allmächtige Kraft – die spirituelle Kraft. Ein Anhänger des Kundalini-Yoga ist jedoch oft mit seiner begrenzten Kraft zufrieden. Nur in ganz seltenen Fällen sind Sucher vom spirituellen Weg abgekommen, weil sie spirituelle Kraft erlangt haben. Doch die Kundalini-Kraft , die okkulte Kraft, hat viele, viele aufrichtige Sucher von der Wahrheit weggeführt.

In den meisten Fällen ist die Kundalini-Kraft kein Segen, sondern ein Fluch. Wenn du die Kundalini-Kraft missbrauchst, bist du ruiniert. Du zerstörst all deine Möglichkeiten, das Höchste zu verwirklichen, und Gott allein weiß, wie viele Inkarnationen du brauchen wirst, um wieder auf den richtigen Weg zu gelangen. In neunundneunzig Prozent der Fälle wird die Kraft der Kundalini missbraucht. Wenn du sie allerdings richtig verwendest, erhältst du Inspiration, etwas Gutes für die Welt zu tun.

Es gibt viele spirituelle Meister höchsten Ranges, die keine Kundalini-Kraft besitzen, weil sie nicht dem Kundalini-Pfad gefolgt sind. Doch sie besitzen spirituelle Kraft, die wesentlich stärker ist. Die wirkliche, spirituelle Kraft erhält der Sucher im Verlauf seines inneren Wachstums.

Wenn Gott jedoch mit einem Sucher, der einem anderen Weg folgt, zufrieden ist, kann Er ihm dennoch ein wenig Kundalini-Kraft geben. Wenn Er fühlt, dass der Sucher die Kundalini-Kraft einmal gebrauchen wird, um Ihn auf eine besondere Weise zu manifestieren, dann sendet Gott einen Boten, der mit der Kundalini arbeitet, um dem betreffenden Sucher diese Kraft zu geben. In Gottes Raum findet man all die verschiedenen spirituellen Eigenschaften. Wenn man Gottes Raum betritt, wird man hier eine Schachtel mit der Aufschrift „Frieden“ entdecken und dort andere Schachteln, auf denen „Licht“, „Liebe“, „Glückseligkeit“ und „Kraft“ steht. Im Augenblick interessierst du dich nur für Frieden, doch Gott fühlt, dass du auch ein wenig Kraft gebrauchen kannst. Die Welt ist so eingerichtet, dass dir die Menschen nicht glauben, wenn du nicht ein wenig Kraft zeigst. Wenn Gott daher der Ansicht ist, dass du in deinem Leben Kraft brauchst, wird Er dir Kundalini-Kraft geben, auch wenn du sie gar nicht wolltest. Doch wenn Gott keine Notwendigkeit dafür sieht, wird Er sie dir selbst dann nicht geben, wenn du danach schreist.

Viele Sucher beginnen ihre spirituelle Reise mit einer guten Haltung: Sie wollen nur Gott, nur Wahrheit, nur Licht. Doch nachdem sie zwei, drei oder sechs Monate lang diesem Weg gefolgt sind, erscheint er ihnen sehr trocken und langweilig. Sie stellen fest, dass er ihnen weder Ruhm noch irgendwelche wunderbaren Kräfte gibt. So geben sie auf und wenden sich einem anderen Weg wie dem Kundalini-Yoga zu.

Sobald man auf diesem Weg etwas erhält, kann man all seine wunderbaren Kräfte der Welt zeigen und fühlen, dass man etwas erreicht hat. Doch diese Kräfte werden dir niemals auch nur einen Hauch von innerem Frieden geben.

Der Gebrauch okkulter Kraft hebt in keiner Weise das Bewusstsein irgendeines Menschen. Wie ein Zauberer führst du etwas vor und erzeugst damit eine Erregung, die vielleicht einige Minuten oder eine Stunde lang anhält. Doch dann fühlst du dich leer und deinen Zuschauern geht es ebenso. Du weißt, dass das nichts Dauerhaftes ist, dass es höhere Wahrheiten und höhere Wirklichkeiten gibt. Du fragst dich: „Ich kam in die Welt, um Frieden, Liebe, Freude, Glück und Erfüllung zu erhalten. Ist das die Erfüllung, nach der ich suche?“ Dann trittst du in das wahre spirituelle Leben ein, in dem die Kundalini nicht benötigt wird. Was hier notwendig ist, ist allein ein innerer Schrei nach Wahrheit, Licht und Seligkeit. Wenn du einmal Wahrheit Licht und Seligkeit erfahren hast, wird dich die Kundalini-Kraft nicht mehr interessieren.

Wenn du dich mit ein wenig Kundalini-Kraft zufriedengeben möchtest, dann meditiere sechs oder sieben Jahre lang einige Stunden am Tag, was wirklich viel ist. Um Gott zu verwirklichen, sind mehrere Inkarnationen erforderlich, sofern man nicht einen guten spirituellen Meister hat. Wenn du dich ausschließlich auf die Chakren konzentrierst und auf Kundalini-Kraft meditierst, dann wirst du ebenso leicht Kundalini-Kraft erhalten wie du nach vierzehn oder fünfzehn Jahren deinen Schulabschluss machst. Und wenn du ein sehr guter Schüler bist, kannst du einige Klassen überspringen und schon nach vier oder fünf oder sechs Jahren Kundalini-Kraft erhalten.

Sri Chinmoy, Kundalini - die Kraft der göttlichen Mutter, The Golden Shore Verlagsges. mbH, Nürnberg, 2018
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