Der Junge sieht Got
Es gab einmal einen spirituellen Meister, der sehr viele Schüler hatte. Eines Tages trat ein junger Schüler auf den Meister zu und fragte: „Meister, wirst du Anstoß daran nehmen, wenn ich dir eine Frage stelle?“Der Meister antworte ihm: „Niemals! Ich werde es dir niemals übel nehmen, ganz gleich, was für eine Frage du mir stellst.“
Der Schüler sagte: „Vor langer Zeit haben die Menschen Gott von Angesicht zu Angesicht sehen können. Wie kommt es, dass heutzutage niemand mehr Gott von Angesicht zu Angesicht sehen kann? Es gibt niemanden mehr, der täglich mit Gott spricht.“
Der Meister entgegnete: „Auch du kannst Gott verwirklichen und von Angesicht zu Angesicht mit Ihm sprechen, wenn du das Gleiche tust, was sie damals taten.“
„Meister, was taten sie?“
„In jenen Zeiten beugten die Menschen, die Gott verwirklicht hatten, ihr Haupt. Heutzutage verbeugen sich die Menschen nicht mehr.“
Der Junge sagte: „Meister, ich kann das leicht tun. Wenn ich mein Haupt sehr weit beuge, kann ich jeden Tag sogar meine Füße mit dem Kopf berühren. Werde ich Gott verwirklichen können, wenn ich das tue?“
Der Meister antwortete: „Ja, wenn du das sechs Monate lang machst, wirst du zweifellos fähig sein, Gott zu sehen und zu verwirklichen.“
Mit tiefstem Vertrauen befolgte der Junge sechs Monate lang diesen Ratschlag. Aber ach, er sah Gott nicht. Er sagte: „Meister, du hast mir gesagt, dass ich Gott sehen und mit Ihm sprechen könne, aber es nichts ist geschehen.“
Der Meister sagte: „Es gibt noch etwas, das unbedingt erforderlich ist.“
„Was brauche ich noch?“
Der Meister erwiderte: „Du musst sehr aufrichtig sein. Du darfst kein einziges Mal lügen.“
„Wenn ich sechs Monate lang nicht mehr lüge – nicht ein einziges Mal – wird es mir dann gelingen, Gott zu verwirklichen?“
Der Meister sagte: „Ja!“
„Muss ich darüber hinaus noch etwas tun?“
Der Meister sagte: „Nein! Halte einfach dein Haupt sechs Monate tief gebeugt und lüge nicht ein einziges Mal.“
Nach sechs Monaten kam der Junge zurück, um seinen Meister zu treffen. Er hatte nicht ein einziges Mal gelogen und sein Haupt täglich ganz tief bis zu seinen Füßen gebeugt. Doch ach, es war ihm immer noch nicht möglich, Gott zu sehen oder zu Ihm zu sprechen.
In diesem Augenblick trat ein anderer Meister zu diesem Meister und fragte: „Was ist hier passiert?“
Der erste Meister antwortete ihm: „Dieser Junge fragte mich, warum die Menschen heutzutage Gott nicht mehr sehen und von Angesicht zu Angesicht mit Ihm sprechen können; wohingegen Menschen in den früheren Zeiten dazu in der Lage waren. Ich sagte ihm, dass auch er das Gleiche tun könne. Ich sagte ihm, dass in jenen Zeiten die Menschen ihr Haupt beugten. Heutzutage tun wir das nicht mehr. Der Junge stimmte mir zu und sagte mir, dass er sogar seine Füße mit seinem Kopf berühren könne. Ich sagte ihm, dass er dann, wenn er dies sechs Monate lang machen könne, Gott verwirklichen könne. Obwohl er meinen Rat genau befolgte, sagte er, dass er Gott nicht sehen könne. Dann sagte ich, dass er auch sehr aufrichtig sein müsse und für die Dauer von sechs Monaten kein einziges Mal lügen dürfe. Wieder folgte er meinen Anweisungen sehr hingebungsvoll, doch er hat Gott immer noch nicht gesehen. Jetzt bin ich in Schwierigkeiten.“
Vor den Augen des Jungen sagte der andere spirituelle Meister zum ersten Meister: „Nein, du steckst nicht in Schwierigkeiten. Es wird mir gelingen, dir zu helfen.“
Anschließend sagte er zu dem Jungen: „Ich sage dir, dass du Gott von Angesicht zu Angesicht sprechen wirst, wenn du machst, was ich dir sage.“
Der Junge war hingerissen. Der neue Meister fuhr fort: „Nun beugst du dein Haupt sehr tief; du bist sogar fähig, deine Füße mit deinem Kopf zu berühren. Außerdem hast du nicht eine Lüge erzählt. Die nächsten sechs Monate musst du damit fortfahren und noch eine Sache hinzufügen. Jeden Tag, nachdem du dein Haupt gebeugt hast, sage bitte noch Folgendes: ‚Gott, ich möchte dich von Angesicht zu Angesicht sehen können, wenn dies Dein Wille ist.’“
Der Junge sagte: „Ich sehne mich zutiefst danach, Gott zu sehen. Wie kann ich da so etwas sagen?“
Der Meister erwiderte: „Das ist das Problem. Wenn du ganz begierig darauf bist, Gott zu sehen, siehst du Ihn für gewöhnlich nicht. Aber wenn du zu Gott sagst: ‚Ich bin ganz begierig darauf, Dich zu sehen, wenn dies Dein Wille ist’, und wenn du dies aufrichtig sagst, dann wirst du in sechs Monaten Gott verwirklichen können.“
Am darauf folgenden Tag erzählte der Junge keine einzige Lüge. Nachdem er zu Hause sein Haupt gebeugt hatte, sagte er zu Gott: „Ich sehne mich zutiefst danach, Dich zu sehen. Wenn dies dein Wille ist, dann erscheine bitte vor mir und erlaube mir, mit Dir zu sprechen. Aber wenn dies nicht Dein Wille ist, dann akzeptiere ich dies voll und ganz.“
Unmittelbar nachdem der Junge dies gesagt hatte, sah er direkt vor sich einen goldenen Lichterglanz, aus dem eine überwältigend schöne Gestalt hervortrat. Diese Gestalt sagte zu dem Jungen: „Mein Kind, ich bin Gott. Du darfst dir etwas von mir wünschen.“
Der Junge rief aus: „Ich kann Gott sehen!“
Gott sagte: „Ja. Nun gehe bitte und sage deinen Lehrern, dass du Mich gesehen hast.“
Der Junge fragte: „Aber wie können sie mir Glauben schenken?“
Gott antwortete: „Sie werden dir glauben. Gehe hin und sage es ihnen.“
Der Junge machte sich auf den Weg. Sein Meister und der andere Meister waren beisammen. Sobald sie ihn erblickten, bemerkten sie einen wunderschönen Heiligenschein um ihn herum. Sein ganzer Körper war buchstäblich von Licht durchflutet. Beide waren völlig erstaunt.
Der Meister des Jungen begann zu weinen. Er sagte: „Ich habe sechzig Jahre meines Lebens gebetet und gebetet. Du hast dies in so kurzer Zeit erreicht!“
Der zweite Meister sagte zu dem Jungen: „Ich bin sehr, sehr stolz auf dich. Sechzig Jahre lang haben wir unentwegt zu Gott gebetet, doch ist Gott nicht zu uns gekommen. In deinem Fall ist Gott schon nach einem Tag bedingungslosen Betens vor dir erschienen. An deinem Gesicht und an deinen Augen kann ich klar erkennen, dass du zu Gott gesprochen hast. Ich bin so stolz auf dich. Auch auf mich bin ich stolz, dass ich dir den Rat gegeben habe zu sagen: ‚Gott, ich sehne mich zutiefst danach, Dich zu sehen. Wenn es Dein Wille ist, werde ich warten.’“
Die Augen der beiden spirituellen Meister waren voller Tränen. Der Meister des Jungen umarmte seinen spirituellen Sohn und sagte: „Du hast mir das Licht gezeigt. Du bist zum Licht geworden.“ Auch der zweite Meister umarmte den Jungen und sagte: „Du hast mir das Licht gezeigt. Du bist das Licht.“