Ein Tropfen Güte wird zum Meer

Es war einmal ein sehr, sehr alter Mann, der äußerst arm war. Er konnte keine Arbeit finden, denn es gab gerade ein ernstes Problem wegen hoher Arbeitslosigkeit. Selbst junge Leute konnten keine Stellen finden. Wer sollte da einem alten Mann Arbeit geben?

Er sagte zu sich: „Ich bin arbeitslos und habe nur noch einen Dollar übrig.“ Da hörte er, dass jemand einen Job für einen alten Mann hätte – als Pförtner. Der Betreffende erzählte ihm, dass nur ein alter Mann für diese Arbeit eingestellt werde und man fast nichts zu tun habe. Das war der perfekte Job für einen alten Mann. Der alte Mann war voller Hoffnung.

In diesem Augenblick kam ein Bettler und bat den alten Mann um etwas Geld. Der alte Mann dachte: „Morgen muss ich mir eine Arbeit suchen. Aber jetzt ist dieser Bettler da. Was soll ich machen?“

Der alte Mann konnte am Gesicht und an den Augen des Bettlers sehen, dass dieser ausgehungert war. Der alte Mann dachte: „Schön. Was kann ich tun? Er gab dem Bettler die Hälfte seines Dollars, indem er sagte: „Lass uns brüderlich teilen. Ich gebe dir die eine Hälfte meines Geldes, ich behalte die andere Hälfte.“

Die Pförtnerstelle, um die sich der alte Mann bewerben wollte, war ziemlich weit von seinem Zuhause entfernt, und so nahm er den Bus. Er dachte, dass er die ganze Strecke mit dem Bus zurücklegen könne. Doch ach, der alte Mann war erst bei der Hälfte der Wegstrecke, als der Busfahrer sagte: „Ihre Fahrt ist hier zu Ende. Sie müssen jetzt aussteigen, da Sie nur fünfzig Cent bezahlt haben.“ Er besaß kein Geld mehr, da er dem Bettler tags zuvor fünfzig Cent gegeben hatte.

Der alte Mann marschierte los. Der Ort war immer noch ziemlich weit entfernt. Sein Verstand sagte: „Warum habe ich mein Geld dem Bettler gegeben?“ Aber sein Herz sagte sehr froh: „Vielleicht konnte sich der Bettler mit dem bisschen Geld, es waren ja nur fünfzig Cent, ein Sandwich kaufen.“ Der Verstand sagte, dass er das Falsche getan hatte, und das Herz sagte, dass er das Richtige getan hatte. So gab es einen schönen Disput zwischen dem Verstand und dem Herzen des alten Mannes.

Gerade in diesem Augenblick ging ein Mann mittleren Alters auf den alten Mann zu und sagte: „Sie sind sehr alt und sehr müde. Was machen Sie? Sie scheinen sehr erschöpft zu sein; warum gehen Sie zu Fuß? Bitte kommen Sie und ruhen sich in meinem Haus aus.“

Der alte Mann sagte: „Nein. Nein. Ich muss gehen. Ich bin auf der Suche nach einer Arbeit. Jemand hat mir gesagt, dass es eine Arbeit als Pförtner gibt und dass man dort eine ältere Person sucht, die diese Arbeit verrichten soll. Deshalb gehe ich dort hin. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“

Der andere Mann sagte: „Nein! Sie müssen nirgendwo mehr hingehen. Kommen Sie in mein Haus. Ich werde Ihnen Arbeit geben. Aber vorher essen Sie bitte etwas. Sie werden täglich in mein Haus kommen und eine sehr einfache Arbeit verrichten. Übrigens, wo wohnen Sie?“

„Ich wohne ziemlich weit weg von hier.“

„Haben Sie Verwandte?“

„Nein, ich habe keine Verwandten.“

„Dann gehört mein Haus Ihnen. Sie bleiben hier. Sie können tun, was immer Sie wünschen. Sie werden hier der Chef sein und das Haus auf ihre Weise sauber halten. Ich habe eine große Familie, und ich betrachte Sie als unseren Großvater.“

Der alte Mann sagte zu seinem neuen Chef: „Gestern gab ich einem sehr armen Mann fünfzig Cent. Ich habe einem armen Bettler nur ein wenig Güte zukommen lassen. Heute haben Sie mir die ganze Welt gegeben. Sie überschwemmen mich mit einem Meer von Güte, Zuneigung und Liebe.“

Sri Chinmoy, Der Verstandes-Dschungel und der Herzens-Garten des Lebens, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2019
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