Die spirituelle Überdosis

Eine hinduistische Familie und eine muslimische Familie standen einander sehr nahe. Eine Tochter der hinduistischen Familie verliebte sich in einen Sohn der muslimischen Familie. Üblicherweise wird es missbilligt, dass Hindus und Muslime heiraten, doch manche toleranten Familien erlauben dies. Weltbekannte Führer, die Hindus oder Muslime sind, sagen oft, dass beide Religionen eins sind, aber wenn ihre Lieben jemanden heiraten wollen, der der anderen Religion angehört, sind sie für gewöhnlich zu hundert Prozent dagegen.

Die Angehörigen der hinduistischen Familie meldeten sich mit einem exzellenten Vorschlag zu Wort: „Da unsere Kinder so enge Freunde sind, kann unsere Tochter den Koran studieren, und euer Sohn kann die Bhagavad Gita studieren. Auf diese Weise wird jeder mit der Religion des anderen vertraut werden, und sie werden in Frieden zusammen leben können.“

Die hinduistische Tochter begann, sich mit dem Koran zu befassen, ohne jedoch wirkliches Interesse dafür aufzubringen. Der muslimische Sohn begann, die Bhagavad Gita zu studieren, die Upanishaden und andere hinduistische Schriften. Er studierte sehr aufrichtig, und dies schenkte ihm enorme Freude. Während er die spirituellen Bücher las und an die vedischen Seher dachte, fühlte er sich tief bewegt. Er sagte sich: „Ich möchte zu einem spirituellen Menschen werden. Ich möchte nicht in irdische Bindungen und das Familienleben verstrickt sein.“

Eines Morgens weinte die hinduistische Tochter bitterlich. Ihr Vater fragte: „Was ist passiert? Hast du dich mit deinem zu-künftigen Ehemann gestritten?“

„Nein, nein, nein!“ erwiderte sie.

„Warum weinst du dann?“ fragte der Vater.

„Vater, du hast ihm eine Überdosis gegeben!“ antwortete die Tochter. „Auf deinen Vorschlag hin studierte er unsere Hindu- Schriften so ernsthaft, dass er jetzt sagt, dass er mich nicht heiraten will. Er hat beschlossen, sein Leben Gott zu widmen.“ Sie weinte untröstlich und fügte hinzu: „Was mich betrifft, so habe ich überhaupt kein Interesse gespürt, als ich mich mit den heiligen Büchern des Islam befasste. Ich war nur daran interessiert, ihn als meinen Ehemann zu haben!“

Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt Gottes Stunde für jemanden schlägt, um sich Gott zuzuwenden. Manchmal beginnen wir aus Neugierde. Aber vielleicht möchte Gott, dass wir über die Neugier hinausgehen. Hier ist der Beweis. Zuerst war der muslimische Sohn neugierig, was die hinduistischen Schriften zu bieten haben. Er verspürte soviel Inspiration aus diesen heiligen Büchern, dass er nur noch in Gebet und Meditation versunken sein wollte. Er ging weiter und tiefer und fand in der hinduistischen Religion die Botschaft der Entsagung. Er entsagte seiner zukünftigen Frau und er entsagte der Welt. Er sagte: „Ich möchte mein Leben Gott geben.“

Sri Chinmoy, Der Verstandes-Dschungel und der Herzens-Garten des Lebens, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2019
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