Vollkommenheit und Transzendenz

Vollkommenheit und Transzendenz

Auf der Verstandesebene hat Vollkommenheit ihre eigene Form und Gestalt. In der Seelen- und Herzenswelt hingegen hängt Vollkommenheit gänzlich von der ewig wachsenden, erleuchtenden, erfüllenden und sich transzendierenden Einheit der Seele mit dem Absoluten Supreme ab.

Wenn wir Vollkommenheit im Verstand oder für den Verstand wollen, dann gibt es ein festgelegtes Ziel. Haben wir diesen bestimmten Ort auf der Verstandesebene einmal erreicht, so fühlen wir, dass wir unser Ziel erreicht zu haben. Wenn die Vollkommenheit aber ein fertiges Produkt ist, liegt keine Freude darin. Im Herzen hingegen identifizieren wir uns mit unserem Ursprung. Das Herz wird nie mit etwas Begrenztem zufrieden sein. Wenn wir nicht die Vollkommenheit sehen oder fühlen, die der Seelenwelt zu eigen ist, wird unsere Vorstellung von Vollkommenheit mit Sicherheit nur ein fertiges Produkt vor unserem geistigen Auge sein. Wahre Vollkommenheit ist eine Wirklichkeit, die ständig wächst. Ein Kind wächst langsam und stetig. Am Anfang kann es nicht einmal krabbeln. Dann kommt die Zeit, wo es zu krabbeln beginnt. Dabei fühlt es bereits sein Potential, vollkommen zu werden. Nach einiger Zeit beginnt es dann zu gehen, um schließlich schnell, schneller, am schnellsten zu laufen. Das ist Fortschritt.

Ich sage euch, im spirituellen Leben ist der Tag, an dem wir zu meditieren anfangen – auch wenn es zunächst nur für eine kurze Zeitspanne ist – der Tag, an dem unser Fortschritt beginnt. Dies ist für uns eine Errungenschaft und zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig auch unser Gefühl von Vollkommenheit. Jedes Mal, wenn wir uns einen weiteren Schritt von der Unwissenheit entfernen und sich neue Perspektiven für uns eröffnen, ist das wieder Vollkommenheit. Was immer unser Bewusstsein erhebt, entspricht unserer Vollkommenheit. Vollkommenheit ist ein stetiges Voranschreiten, eine immer höhere Errungenschaft und tiefere Erfüllung.

Wir versuchen im Unendlichen, mit dem Unendlichen und für das Unendliche zu leben. Im Augenblick sind wir noch erdgebunden, aber wir wollen nicht gebunden bleiben; wir wollen frei sein. Wie können wir dieses Ziel erreichen? Indem wir Schritt für Schritt in die Unendlichkeit wachsen. Wenn wir in die Unendlichkeit eintreten, fühlen wir, dass auch Gott, der Supreme, Fortschritt macht. Wenn wir sagen, dass Gott alles ist, dass Er unendlich ist, dann sind das nur Begriffe, die unser Verstand formt. Mit diesen Begriffen schränken wir uns nur ein. Sagen wir hingegen, dass Er sich fortwährend transzendiert, dann fesseln wir weder Ihn noch uns. Wenn sich Gott unentwegt selbst transzendiert, wie können wir Ihn dann binden? Wir beten zu Gott, weil wir uns gebunden fühlen und glauben, Er sei ungebunden. Wir besitzen einen Euro an spirituellem Reichtum, während Er Milliarden von Euro besitzt und selbst diesen Reichtum noch unaufhörlich vergrößert. Schrittweise versuchen wir unsere beschränkten Fähigkeiten zu vergrößern. In Seinem Fall hingegen können wir nicht einmal seinen Reichtum ermessen, weil er ständig zunimmt.

Vollkommenheit bedeutet, im inneren wie im äußeren Leben ständig Fortschritt zu machen. Für ein Kind, das noch im Kindergarten ist, bedeutet ein Doktortitel bereits Vollkommenheit. Es weiß, dass es noch eine Menge lernen muss, bevor es erwachsen wird. Aber es gibt nicht auf. Es lernt weiter. Wenn ein Doktortitel seiner Vorstellung von Vollkommenheit entspricht, muss es ohne Unterlass nach noch erleuchtenderem und erfüllenderem Wissen streben. Nur wenn sein Durst danach beständig ist, fühlt es, dass es wirklich die Botschaft der Vollkommenheit empfängt. Sein größtes Ziel ist es, ein Universitätsstudium abzuschließen. Im Augenblick entspricht das seiner Vorstellung von Vollkommenheit. Hat es dann aber endlich sein Studium abgeschlossen, wird es erkennen, wie viel mehr es auch dann noch zu lernen gibt. Was wird aus seiner Vollkommenheit? Was für das Kind zuvor Vollkommenheit war, ist jetzt nur der Anfang einer neuen Erkenntnis, eines neuen Lebensabschnittes.

Wenn wir ein schönes Musikstück komponieren, haben wir das Gefühl, es sei vollkommen. Doch sobald wir darauf meditieren erkennen wir, dass wir ihm noch etwas hinzufügen oder es sogar noch enorm verbessern können. Das Problem liegt darin, dass es dem menschlichen Verstand immer schwer fällt, vorwärts zu gehen. Er besitzt nicht genug Beharrlichkeit, um über seine gegenwärtigen Errungenschaften hinauszugehen. Er hat etwas erreicht und weiß, dass die Welt es schätzen wird. Wenn wir etwas erschaffen, erhalten wir von der äußeren Welt eine Art Erfüllung. Sobald wir diese erhalten, wollen wir unsere Errungenschaft häufig nicht mehr weiter verbessern, weil es womöglich weit und breit niemanden gibt, der uns das Wasser reichen kann. Im Falle göttlicher Zufriedenheit oder Erfüllung jedoch betrachten wir sie nicht als Erfolg oder Ruhm, sondern als göttliche Erfahrung. Wenn wir diese göttliche Erfüllung erhalten, verspüren wir gleichzeitig auch einen inneren Drang, über das Erreichte hinauszugehen.

Sri Chinmoy, Vollkommenheit und Transzendenz, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2008
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