Teil I

SCA 203-229. Die folgenden Fragen wurden im Januar 1995 beantwortet.

Frage: Wie kann ich als Schüler vollkommen werden?

Sri Chinmoy: Das Wort vollkommen ist einerseits schwer, andererseits leicht verständlich. Zuerst müssen wir uns bewusst sein, dass es nicht dasselbe ist, ein vollkommener Mensch oder ein vollkommener Schüler zu werden. Wenn wir einen Menschen beschreiben und den Begriff vollkommen verwenden, so meinen wir damit im allgemeinen, dass er viele gute Eigenschaften hat, welche die Leute in seiner Umgebung nicht haben. Nehmen wir an, jemand besitzt zehn gute Eigenschaften und die Menschen in seiner Umgebung haben vielleicht zwei oder drei gute Eigen­schaften. Natürlich werden diejenigen, die nur zwei oder drei gute Eigenschaften haben, jenen mit den zehn guten Eigenschaften außerordentlich bewundern. Aber wer weiß, vielleicht gibt es noch zwanzig weitere gute Eigenschaften, die er nicht hat.

Selbst wenn jemand sehr viele gute Eigenschaften besitzt, können andere trotzdem immer noch behaupten, er sei sehr weit von der Vollkommenheit entfernt. Sie könnten allen seinen Handlungen unedle Motive zuschreiben.

Nehmen wir an, eine bestimmte Person besäße eine sehr mitmenschliche Gesinnung und schenkte den Armen viele Almosen. Einige Leute werden diese Person bewundern und von ihr sagen, sie hätte ein freundliches Herz, während andere behaupten, es wäre keine Aufrichtigkeit dahinter und diese Person würde all das nur tun, damit sie angeben könne.

Im gewöhnlichen menschlichen Leben findet man Vollkommenheit auf einer Ebene des Bewusstseins. Wenn ein Mensch eine gewisse Anzahl an guten Eigenschaften besitzt, werden seine Freunde, Nachbarn und Verehrer behaupten: „Er ist vollkommen.“ Andere werden dem nicht zustimmen, doch es wird viele geben, die seine Seite einnehmen, weil sie in ihm all jene guten Eigenschaften wahrnehmen, die sie selbst nicht besitzen. Dennoch muss man im spirituellen Leben die Vollkommenheit von einem anderen Gesichtspunkt, aus einer anderen Perspektive betrachten.

Betrachten wir einmal die Idee von der Hingabe an den Willen Gottes. Wir wissen, dass auf der spirituellen Leiter drei Sprossen vorhanden sind: Liebe, Ergebenheit und Hingabe. Zuerst kommt die Liebe, dann die Ergebenheit und dann die Hingabe. Wir müssen wissen, dass Liebe und Ergebenheit niemals vollständig und vollkommen sein können, solange die Hingabe nicht vollständig, vollkommen und bedingungslos ist. Ich vertrat immer die Meinung, dass Liebe das Fundament ist und nach der Liebe müsse die Ergebenheit Gestalt annehmen. Und zu guter Letzt würde die Krönung erfolgen: die Hingabe. Doch nun erkenne ich, dass wir, wenn wir niemals die Höhe der Hingabe erreichen, den Schritt der Liebe oder den Schritt der Ergebenheit nicht schätzen können. Wir können die höchste Notwendigkeit des Baumstammes erst dann wirklich schätzen, wenn wir an ihm hinaufklettern, um die Mangos zu holen. Solange wir die Mangos nicht kosten, können wir die weiter unten wachsenden Teile des Baumes nicht vollständig schätzen. Nur wenn wir das Ziel erreichen, können wir der Straße, die uns zum Ziel geführt hat, die höchste Bedeutung beimessen.

Vom höchsten Standpunkt aus betrachtet, ist die vollkommene Vollkommenheit, unsere Hingabe an Gottes Willen. Doch diese Art von Hingabe zu haben, ist für einen strebenden Sucher äußerst schwierig. Wenn wir beginnen, wissen wir ja nicht einmal, wie der Wille Gottes lautet. Wir erhalten eine innere Botschaft, aber wir wissen nicht, woher sie kommt. Wenn eine bestimmte Botschaft aus dem Herzen kommt, halten wir sie vielleicht für eine Botschaft aus dem Verstand oder umgekehrt. Dann wiederum übermittelt uns der Verstand eine Botschaft, doch wir sind im Glauben, sie käme direkt von Gott. Oder wir erhalten eine Botschaft unseres Vitalen und wir halten sie für eine Botschaft unserer Seele. Es besteht also die grundlegende Möglichkeit, dass wir uns völlig irren, wenn wir herauszufinden versuchen, wie der Wille Gottes lautet. Tatsächlich empfinden wir, dass jene Botschaft, die wir sehr einfach ausführen können, definitiv von oben kommt. Und so könnten wir eine trügerische Gewissheit oder ein trügerisches Gefühl von Sicherheit haben, das einen Tag, einen Monat oder ein Jahr lang anhält.

Wir als menschliche Wesen erhalten ständig verschiedene innere Botschaften und in jedem Augenblick ergeben wir uns einer von ihnen. In allen unseren Taten ist der Hingabeaspekt vorhanden. Wenn wir einen freien Zugang zur inneren Welt hätten, würden wir erkennen, dass wir uns in jedem Augenblick entweder dem physischen Bewusstsein oder irgendeinem anderen Teil unseres Wesens hingeben. In unserem alltäglichen Leben sagen wir: „Ich habe dieses und jenes beschlossen.“ Doch das ist völlig inkorrekt. Der Entschluss stammt entweder von unserem Verstand, unserer Lebenskraft, unserem Herzen, unserer Seele oder von Gott. Ein Wesensteil von uns ist immer der Führer oder Herrscher, und wir identifizieren uns selbst mit der Entschlusskraft dieses Führers oder Herrschers. Daher ist der Hingabeaspekt in allem, was wir tun, vorhanden.

Meistens übernimmt der Verstand die Entscheidungen. Wenn er eine Entscheidung trifft, identifizieren wir uns dermaßen mit dem Verstand, dass wir fühlen, wir wären diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben. Und auf exakt dieselbe Art und Weise, wie der Verstand für uns entscheiden kann, will auch Gott für uns entscheiden. Doch wenn Gott für uns entscheidet, so gibt uns das in den meisten Fällen leider keine äußere Freude. Das ist so, weil das Auge Gottes sieht, dass die Art, auf die wir uns selbst glücklich machen wollen, meistens nicht die Richtige ist.

Wenn die von Oben herabkommende Botschaft uns nicht zufrieden stellt und uns nicht auf unsere Weise glücklich macht, wenn wir uns mit unserem Verstand, unserem Vitalen oder unserem physischen Bewusstsein sehr stark identifizieren, dann geschieht es sehr oft, dass wir dieser Botschaft keinen Glauben schenken. Wir sagen: „Wenn Gott nur Liebe und Mitgefühl ist, warum lässt Er mich dann dermaßen leiden?“ Doch wenn wir uns selbst mit unseren Verwandten und Freunden, die weder beten noch meditieren, vergleichen, so werden wir erkennen, dass es uns viel besser geht und dass wir unendlich glücklicher sind als sie.

Alles ist eine Frage der Erwartung. Bevor wir das spirituelle Leben begannen, hatten wir gewiss einen Vorgesetzten, und dieser Vorgesetzte war der Verstand. Nun, da wir dem inneren Leben folgen, erwarten wir, dass Gott uns immer führt. Doch wir kritisieren den armen Gott ständig. Wir behaupten entweder, Er sei unsichtbar oder Er stelle uns nicht zufrieden. Auch wenn Gott für uns eine sichtbare Form annehmen würde, würden wir sagen: „O Gott! Ich dachte, Du wärest unendlich schöner!“ Wir halten Ausschau nach Gott in einer bestimmten Form, doch Er erscheint uns in einer anderen Form. Die indischen Geschichten sind voll mit dieser Art von Erfahrungen. Manchmal erscheint Gott sogar in der Form eines Hundes, nur um den Sucher zu prüfen und um zu sehen, wie stark sich der Sucher mit dem Gottesbewusstsein identifiziert. Doch der arme Sucher wird den Hund aussperren, weil er sich von ihm belästigt fühlt.

Wir erwarten, dass Gott uns in einer ganz lichtvollen Gestalt erscheint – in einer Gestalt, die unsere Vorstellungskraft bei weitem übertrifft. Doch leider, sogar wenn Gott in Seiner absolut schönsten Form erscheint, zum Beispiel in einem Traum, hat das, was Gott als wunderschön empfindet, in unseren Augen vielleicht gar nichts mit Schönheit zu tun. Unsere Beurteilung von Gottes Schönheit mag völlig anders sein als Gottes eigene Beurteilung Seiner selbst. Die Art und Weise, wie wir etwas aus unserer weltlichen Sicht und mit unserer weltlichen Fähigkeit betrachten, kann völlig anders sein als jene Art und Weise, wie es dem Auge Gottes erscheint. Wir sagen: „Nur wenn Gott in dieser Form kommt, werde ich Ihn annehmen. Wenn Er in einer anderen Form kommt, so kann es nicht Gott sein.“ Da wir nicht im universellen Bewusstsein verankert sind, haben wir Gott in unserem Verstand auf eine gewisse Weise formuliert. Doch unsere Vorstellung von Gottes Schönheit oder Gottes Heiligkeit mag vom höchsten Standpunkt aus betrachtet völlig absurd sein.

Auf ähnliche Weise haben wir auch unsere eigenen Ideen über das Glück formuliert. Wir empfinden, dass eine Botschaft von Gott gekommen sei, wenn sie uns unserer Vorstellung entsprechend glücklich macht. Aber wenn eine Botschaft kommt, die uns nicht sofort glücklich werden lässt, eine, die uns nur Unglück oder Leid bringt, weisen wir sie zurück. Wenn wir eine Botschaft erhalten, mit der wir nichts anfangen können oder die wir nicht auf göttliche Art erfüllen können, ignorieren wir sie einfach. Wir sagen, es ist nicht möglich, dass sie von Gott gekommen ist.

Wirkliches Glück und spirituelle Vollkommenheit gehören zusammen. Von der Vollkommenheit erhalten wir inneres Glück. Wenn uns etwas vollkommen gelungen ist oder wenn wir fünf Minuten oder fünf Stunden lang ein vollkommener Mensch sind, dann sind wir innerlich wirklich glücklich. Wenn wir einen bestimmten Grad an Vollkommenheit erreicht haben, folgt das Glück von selbst. Wir können aber auch über das Glücklichsein zur Vollkommenheit gelangen. Wenn wir auf eine spirituelle Art glücklich sind, wollen wir richtig handeln und zu einem rechten Menschen werden. Wenn wir uns elend fühlen, hassen wir nur uns selbst und verfluchen uns. Und wer kümmert sich in solch einem Zustand um Vollkommenheit? Doch wenn wir spirituell glücklich sind, gleicht unser Glück einem soliden Fundament, auf dem wir den Palast der Vollkommenheit errichten können.

Aber auch wenn wir glücklich sind und das Richtige tun wollen, wie können wir wissen, was das Richtige ist? Wir wissen, dass sich Vollkommenheit einstellt, wenn wir auf den Willen des Höchsten hören, aber wie können wir wissen, ob eine Botschaft vom Höchsten stammt oder aus einer niedrigeren Quelle? Ein Weg, um das herauszufinden wäre, eine lange Zeit gut zu meditieren. Ich meine hier nicht eine Meditation, die sich über zwei oder drei Minuten oder vielleicht sogar eine halbe Stunde erstreckt. Wir müssen mindestens zwei Stunden lang an einem Stück ohne Unterbrechung meditieren. Wir müssen aufrichtig und hingebungsvoll mit einem starken, inneren Schrei meditieren, so als ob ein Kind in unserem Herzen schreien würde. Ist unsere Meditation erhaben, erhalten wir mit Sicherheit die richtige Antwort von oben.

Unsere Meditation muss zielgerichtet sein. Es darf keine Meditation sein, wo der Verstand einen Augenblick lang fokussiert ist und im nächsten Augenblick in die Wildnis abwandert, und man an die Freunde denkt oder daran, was man zum Frühstück gegessen hat. Wenn ein einziger Gedanke durch die Verstandestür eintritt, so ist er wie ein Nagel, der in die Wand unserer Meditation geschlagen wird. Gibt es keinen Gedanken, dann gibt es auch keinen Hammer, keinen Nagel, es gibt nichts – außer Frieden. Diese Art der Meditation ist aber leider nur sehr schwer zu erlangen.

Neben der zielgerichteten Meditation gibt es noch einen anderen Weg, durch den wir den Willen Gottes erkennen können. Wir können zu Gott beten, damit er uns die Fähigkeit gibt, dass wir ständig voller Hingabe sind; das bedeutet nicht eine Sekunde oder fünf Minuten lang, sondern dass wir uns ständig und bedingungslos Seinem Willen hingegeben. Wir können sagen: „Herr, schenke mir die Fähigkeit, mich Deinem Willen hinzugeben. Ich will hier auf der Erde etwas Gutes vollbringen. Wenn ich scheitere, werde ich dieses Ergebnis fröhlich annehmen. Und wenn ich erfolgreich bin, weiß ich, dass dies nur durch Deine Fähigkeit ermöglicht wurde, die in mir und durch mich handelt.“ Wenn wir uns in all unseren Taten derart hingegeben und losgelöst verhalten können, wird es dem Willen Gottes möglich, in und durch uns zu handeln.

Solch eine heitere Ergebenheit zu erzielen, ungeachtet der Resultate unserer Handlungen, ist äußerst schwierig. Wenn uns etwas gelingt, so sind wir bereit, allem und jedem dafür zu danken. Nehmen wir an, ich sehe auf meinem Weg zu einem Sportplatz einen Affen oder einen Hund auf der Straße. Wenn mir dann der 100-Meter-Sprint am Sportplatz gut gelingt, bin ich bereit, sogar diesem Hund oder diesem Affen, den ich auf meinem Weg begegnet bin, zu danken. Doch gelingt er mir nicht, beginne ich, die ganze Welt dafür verantwortlich zu machen: „Es hat mir Unglück gebracht, diese oder jene Person auf der Straße zu treffen!“ So fahre ich fort, diesen und jenen zu beschuldigen. Und so verwandelt sich unsere Hingabe in eine bedingte Hingabe. Doch wenn es sich um wahre Hingabe handelt, nehmen wir das Resultat heiter an, ganz gleich was geschieht. Ob das Resultat nun günstig oder ungünstig ist, wir nehmen es mit derselben Geisteshaltung an und unsere Hingabe wird nicht beeinträchtigt.

Ein dritter Weg, um den Willen Gottes zu erkennen, ist in jedem Moment ein kindliches Bewusstsein zu haben. Wollen wir uns im normalen Leben mit einer wichtigen Person treffen, so müssen wir zuerst die Sekretäre beschwichtigen und zufrieden stellen, dann die Personen, die einen höheren Rang einnehmen. Wir müssen vom Niedrigsten zum Höchsten gehen. Im spirituellen Leben verhält es sich anders. Jemand, der ein kindliches Bewusstsein besitzt, kann sich dem Supreme direkt nähern. Ein Kind hat vor seinem Vater keine Angst, ganz gleich was für eine hochstehende Persönlichkeit der Vater auch sein mag. Der Vater kann der Chef einer großen Firma sein und viele Angestellte haben. Doch das Kind muss sich nicht an die Angestellten wenden, um zum Vater zu kommen; es läuft einfach zum Vater hin und dieser unterbricht seine Tätigkeit und setzt das Kind auf seinen Schoß.

Ich habe drei Wege aufgezählt, wie man den Willen Gottes erkennen kann. Der erste Weg ist eine gründliche, tiefgehende Meditation, die viele Stunden dauert; der zweite Weg ist die heitere Hingabe unseres gesamten Wesens; und der dritte besteht darin, ein kindliches Bewusstsein zu haben. Jeder einzelne dieser Wege ist einfach, vorausgesetzt, wir wollen sehr schnell laufen und sind entschlossen, das Rennen zu beenden. Wenn ein Sucher den eisernen Willen hat, ein vollkommener Schüler zu werden, wird es ihm letzten Endes gelingen.

Wenn der Sucher allerdings einen verwirklichten Meister hat, der sich auf der physischen Ebene befindet und der den Willen Gottes kennt, so besteht für ihn keine Notwendigkeit, drei Stunden zu meditieren oder dieses Ausmaß an heiterer Ergebenheit in seinen täglichen Aktivitäten zu haben oder sich Gott in einem kindlichen Bewusstsein zu nähern. In diesem Sinne hat er Glück.

Wenn wir im gewöhnlichen Leben ein Fachgebiet studieren wollen, so wenden wir uns an einen Experten auf diesem Gebiet. Dann studieren wir und lernen, und schließ­lich verlassen wir die Welt der Unwissenheit und erlangen Erleuchtung – nicht im spirituellen Sinne, aber im menschlichen Sinne. Spiritualität ist ein weites Fachgebiet. Wenn wir es studieren wollen müssen wir uns an einen Lehrer wenden, der sich damit auskennt. Haben wir dann später das Gefühl, es gäbe nichts mehr, das der Lehrer uns noch beibringen könnte, so können wir unsere Reise alleine fortsetzen. Auch ich hatte einmal einen Meister. Erst als ich fühlte, dass ich alles von ihm gelernt hatte, was ich lernen musste, trat ich mit dem Höchsten in Verbindung. Wenn meine Schüler diese Ebene erreichen, werden sie ebenfalls eine direkte Verbindung mit dem Supreme aufbauen. Aber bei eurem jetzigen spirituellen Entwicklungsstand ist es für euch viel, viel einfacher, Gottes Willen zu erkennen, wenn ihr auf euren Meister hört, als wenn ihr versuchen würdet, direkt zum Höchsten zu gehen.

Wenn ein süßes und unschuldiges Kind etwas von seinem Vater will, doch der Vater sich gerade an einem anderen Ort aufhält, dann kann das kleine Kind es einem der Angestellten seines Vaters sagen. Der Angestellte wird sich sofort an den Vater wenden, damit er dem Kind das Gewünschte bringen kann. Dieser Mitarbeiter, der zum Vater des Kindes geht, erhält doppelte Freude. Einerseits erhält er Freude, wenn er dem Vater, der ja der Vorgesetzte ist, mitteilt: „Ihr Kind braucht etwas.“ Und anschließend, wenn ihm der Vorgesetzte das Gewünschte gegeben hat, erhält er Freude, wenn er es dem schönen Kind aushändigt. Und auch der Vater ist erfreut, dass sein Mitarbeiter zu ihm kam, um seinem Kind einen Gefallen zu tun. In unserem Falle bist du das kleine Kind und dein spiritueller Meister ist derjenige, der freien Zugang zu deinem Vater, das heißt zu Gott, hat.

Ein gottverwirklichter spiritueller Meister steht auf einer unendlich höheren Stufe als die Seele eines gewöhnlichen Menschen. Er steht auf einer unendlich höheren Stufe als die Seelen von Hunderten und Aberhunderten gewöhnlichen Menschen. Ein verwirklichter Meister ist der Vertreter Gottes auf Erden: Er kam in die Welt, um dem Höchsten in der Menschheit zu dienen. Wenn er ein wahrhaftiger Meister ist, so besitzt er keinen eigenen Willen. Wenn er etwas sagt, so ist dies nur der Wille Gottes, dem er Ausdruck verleiht. Auch die Seele hat keinen eigenen Willen; sie drückt ebenfalls nur den Willen Gottes aus.

Wenn du der Manager eines Büros bist und dir ein assistierender Manager, der die Weisheit und die Sachkenntnis entwickelt hat, das Büro zu führen, zur Seite steht, dann gestaltet sich deine Arbeit viel einfacher. Du schätzt dich glücklich, dass es jemanden gibt, dem du trauen und auf den du dich verlassen kannst, jemanden, der dir helfen kann. Und wenn dem assistierenden Manager ein altgedienter Sekretär zur Seite steht, der ihn wiederum unterstützen kann, dann wird auch seine Arbeit viel leichter. Und so ist auch Gott, wenn Ihm ein spiritueller Meister auf der Erde hilft, sehr glücklich. Und wenn dann noch die Seele eines Suchers für den Meister arbeitet und sich mit dem strebsamen Herzen, dem Verstand, dem vitalen und physischen Bewusstseins des Suchers beschäftigt, dann erfüllt den Meister Freude. Auch wenn der Sucher die Botschaften direkt von seiner Seele vernehmen kann und auf diese Botschaften hört, erleichtert das die Aufgaben des Meisters und das Werk Gottes um ein Vielfaches. Doch wenn der Sucher die Botschaften seiner Seele nicht so richtig verstehen kann, dann ist der Meister hier, um ihm zu sagen, was er tun soll.

Hier spreche ich nicht den physischen Aspekt des Meisters an, sondern den Supreme im Meister, der sich im Physischen befindet. Das ist der wahre Meister. Leider sehen die Schüler die meiste Zeit den physischen Aspekt des Meisters. Der Meister hat keine Haare auf dem Kopf, der Meister hinkt, der Meister ist dieses und jenes. Wie viele Unvollkommenheiten sie im Meister wahrnehmen! Sie erkennen nicht, dass die Schüler selbst die Ursache sind, warum der Meister hinkt; doch das ist eine andere Sache. Also, wenn man nur auf die physischen Unvollkommenheiten des Meisters achtet, wird man jeden Moment Niedergeschlagenheit oder Enttäuschung erleben. Der äußere Aspekt des Meisters wird nur Verwirrung und Unverständnis in einem hervorrufen.
Letztes Jahr las ich ein Buch, geschrieben von Nolini, in dem er erwähnte, dass wir in Sri Aurobindo nur den Menschen, den physischen Menschen wahrnahmen, und nicht Sri Aurobindo, den Göttlichen. Da wir nicht immer Sri Aurobindo, den Göttlichen, sahen, blieb unsere Natur noch immer dieselbe. Die goldene Gelegenheit, unsere Natur zu transformieren, hat sich uns geboten, doch wir haben sie nicht richtig genutzt.

Eine gottverwirklichte Seele klettert den Lebensbaum hinauf und hinunter. Von den höchst gelegenen Ästen steigt sie herab zum Fuße des Baumes, um in der Menschheit einen inneren Hunger zu schaffen; und wenn sie den Hunger sieht, trägt sie diesen Hunger den Baum hinauf und bringt das Mahl herab – Frieden, Licht und Glückseligkeit.

Es ist wundervoll, wenn du auf die Botschaften der Seele hören kannst. Auch wenn du auf das hören kannst, was dir der Supreme in deinem Meister sagt, wirst du das Richtige tun. Aber wenn es dir nicht möglich ist, die Botschaften deiner Seele zu vernehmen und mit jener Art, wie der Meister mit den Dingen umgeht, klar zu kommen, dann bleibt dir noch als letztes Mittel, dich direkt an Gott wegen all dieser Dinge zu wenden. Wenn du das tust, wird die Seele nicht im geringsten traurig oder unzufrieden sein. Im Gegenteil, der Meister wird sehr stolz auf dich sein, wenn du ihn nicht benötigst, um zum Höchsten zu gelangen.

Die spirituelle Vollkommenheit liegt darin, den Willen Gottes zu erkennen und den Willen Gottes ständig mit der Hilfe deiner Seele, deines Meisters oder Gottes selbst auszuüben. Zuerst musst du erfahren, welche Dinge Gott für dich vorgesehen hat, indem du dich vollständig mit dem Willen Gottes identifizierst. Wenn du dich selbst mit deinem Verstand, deinem vitalen oder physischen Bewusstsein identifizierst, wirst du Millionen und Milliarden Kilometer von dem entfernt sein, was Gott in dir und durch dich manifestieren will. Du musst dich also zuerst mit dem Willen Gottes identifizieren und dann den Willen Gottes mit größter Heiterkeit und Freude ausüben. Dies ist die einzige Vollkommenheit im Leben eines Suchers. Wie ich vorher erwähnte, wird dein Verstand sagen, diese Person sei vollkommen oder jene Person sei vollkommen, weil sie einige gute Eigenschaften besitzt. Hier ist der Verstand der Richter. Doch im spirituellen Leben gibt es keinen Richter; dein inneres Wesen muss nur beobachten, ob du das Richtige machst oder nicht. Was ist das Richtige? Gott auf Gottes eigene Art und Weise zufrieden zu stellen.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet, Teil 6, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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