Frage: Hat mein Verstand irgendeine besondere Botschaft für mich?6

Sri Chinmoy: Der Verstand durchschreitet drei Haupt­­­­stufen. Die erste ist die Stufe des Schlafes, wo der Verstand völlig schläft. Dann kommt die Stufe, auf der der Verstand erwacht, und zuletzt kommt die Stufe, auf der der Verstand erleuchtet wird. Es gibt aber auch viele Ebenen innerhalb jeder Stufe, doch diese drei sind die Hauptkategorien.

Dein Verstand schläft definitiv nicht mehr. Du befindest dich nicht im Unwissenheitsschlaf. Dein Verstand befindet sich zwischen der Stufe des Er­wachens und der Stufe der Erleuchtung. Wenn du dich im erleuchteten Verstand befindest, wenn das Licht deiner Seele in deinem Herzen und in deinem Verstand sehr stark arbeitet, sagst du das Richtige zur richtigen Person und tust das Richtige für die richtige Person. Du empfiehlst der richtigen Person, das Richtige zu tun, doch der falschen Person empfiehlst du es nicht. Nicht weil die falsche Person dein Feind ist oder weil es unter deiner Würde ist, es ihr zu sagen. Nein, nicht deswegen, sondern nur, weil für die falsche Person die Stunde noch nicht geschlagen hat, und wenn du ihr empfiehlst, jenes zu tun, das für jemand anderen absolut das Beste ist, so würde das nur die Zerstörung dieser Person beschleunigen.

Wenn du dich im erwachten Verstand befindest, kann es auch geschehen, dass du Menschen Freundlichkeit und Mitgefühl entgegenbringst, die es eigentlich nicht verdienen und die noch dazu deine Freundlichkeit und dein Mitgefühl ausnützen. Du magst sagen, dass deine Aufgabe vorüber ist, sobald du ihnen eine Freundlichkeit erwiesen hast. Doch du solltest dir bewusst sein, dass deine Freund­­lichkeit sehr grob ausgenutzt werden kann. Wenn jemand zu dir kommt und dich um einen Dollar bittet, wirst du ihm den Dollar geben, weil du ein großes Herz besitzt. Doch du hast keine Ahnung, ob es sich um einen guten oder schlechten Menschen handelt beziehungsweise was er mit dem Geld zu tun gedenkt. Vielleicht verwendet er es, um mit der U-Bahn oder dem Taxi zu einer Kirche zu fahren, um dort zu beten und zu meditieren, damit er ein besserer Mensch wird. Das wäre sehr gut. Doch er könnte ebenso in eine Bar gehen und sich betrinken und sein Bewusstsein auf eine noch niedrigere Stufe bringen. Wer ist dann der Missetäter? Du bist so glücklich, dass du deine Großzügigkeit und Wohltätigkeit zeigen konntest, doch du hast eigentlich einen Fehler begangen.

Du versuchst deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem du behauptest: „Das habe ich nicht gewusst.“ Doch ein unbewusster Fehler ist immer noch ein Fehler, der schlimme Resultate nach sich ziehen kann. Auch wenn ich das Feuer unbewusst berühre, verbrenne ich meine Hand. Und so hast du unbewusst jemanden dabei unterstützt, schlechter zu werden, als er es ohne dein Zutun geworden wäre. Hättest du dieser Person nicht geholfen, wäre sie zumindest für eine kleine Weile ein etwas besserer Mensch gewesen.

In deinem Fall gebe ich dir ein Beispiel, was passiert. Du schenkst Menschen dein Mitgefühl, die es ausnützen und dadurch einer noch größeren Zerstörung entgegengehen. Wenn manche Menschen ihr spirituelles Leben aufgeben, fühlst du dich schlecht und enttäuscht. Du glaubst, dass sie den spirituellen Pfad nicht verlassen hätten, wenn du jenes vielleicht nicht gesagt oder dieses vielleicht gesagt hättest – als ob du für ihr Weg­gehen verantwortlich wärst. Gott kann diese Person nicht vor dem Verderben retten, der Meister kann sie nicht retten, doch du glaubst, dass du, indem du etwas gesagt oder getan hättest, den Weggang dieser Person hättest verzögern oder sogar verhindern können. Das ist wirklich ein Irrtum. Ich sage das zu dir, doch in Wahrheit betrifft es sehr viele Menschen.

Es ist um ein Vielfaches besser, sich im erwachten Verstand aufzuhalten als im Sumpf des Unwis­sen­heits­schlafes. Doch der erwachte Verstand wird nicht immer über die notwendige Weisheit verfügen, um das Richtige zu tun. Du bist an jenem Punkt angelangt, wo du freundlich und nett zu den Menschen sein willst. Ich verlange nicht, dass du den Menschen gegenüber gleichgültig sein sollst – nein, keineswegs. Doch die Freundlichkeit muss von innerem Licht begleitet werden. Wenn Freund­lichkeit kein inneres Licht enthält, kann sie sehr schlimm ausgenützt werden. Der erwachte Ver­stand glaubt an Wohltätigkeit, Geduld, Mitleid und so weiter. Weil er erwacht ist, fühlt er, dass ein weites Bewusstsein in ihn eintritt. So ähnlich verhält es sich, wenn das Blumenherz eines Menschen erblüht; zu diesem Zeit­punkt wird das Herz groß. Der erwachte Verstand schaut sofort von einer Seite zur anderen und versucht, das Richtige zu tun. Unglücklicherweise weiß er nicht immer, was das Richtige ist oder wie er sein erweitertes Bewusst­sein richtig benutzen soll.

Deswegen ist es immer gut, den Verstand zu verwenden, der das Licht von der Seele, das durch das Herz fließt, aufgenommen hat. Das ist der Verstand, der dich retten wird. Wenn es dir nicht möglich ist, den erleuchteten Verstand zu benutzen, dann versuche, zwischen dem erwachten und dem erleuchteten Verstand zu verweilen. Doch bleibe nicht ganz im erwachten Verstand. Wenn du einen großen Verstand besitzt und versuchst, mit diesem großen Verstand großzügig, nett und gastfreundlich zu sein, wirst du in Schwierig­keiten geraten.

Ich ertappe deinen Verstand; du hast Fehler gemacht. Du solltest wissen, dass Menschen kommen, wenn ihre Stunde schlägt, und auch wieder gehen, wenn die Stunde schlägt. Wir können sie nicht dazu bringen, auf dem spirituellen Weg zu bleiben. Es ist für uns sehr schwer, denn der Großmut unseres Herzens kommt zum Vorschein und wir wollen unsere Freundlichkeit walten lassen. Wir sehen, dass eine bestimmte Person so viele Jahre bei uns war. Jahrelang saß jemand auf der Spitze des Baumes und aß die köstlichsten Früchte. Nun ist diese Person herabgestiegen, und es besteht jede Möglichkeit, dass ein hungriger Wolf oder Tiger am Fuße des Baumes auf sie wartet, um sie zu verschlingen. Doch was können wir tun? Nur auf der Spitze des Baumes befand sie sich in Sicherheit.

Ich sage euch, ich mache den gleichen Fehler; allerdings gebe ich nicht auf. In deinem Fall begehst du den Fehler und gibst zwei Tage später auf. Doch weil ich mit der Seele zu tun habe, kämpfe ich und kämpfe und kämpfe.

Einige, die unseren Weg vor zehn oder zwölf Jahren verlassen haben, tauchen immer noch sehr freundlich an der Tür meines Herzens auf. Noch immer ist meine Tür nicht verschlossen. Denkst du noch an jemanden, der unseren Pfad vor zehn Jahren verlassen hat? Für dich heißt es, genug ist genug. Doch ich versuche weiterhin, ihnen zu helfen.


SCA 30. Frage von Nirvik an Sri Chinmoy (31. Dezember 1986)

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet , Teil 1, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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