Herausgeber: Beim Weltparlament der Religionen in Chicago drückten Sie mit Ihrer Stille mehr aus als all die anderen Redner.

Sri Chinmoy: Glauben Sie mir, mindestens sieben- oder achtmal baten mich die Organisatoren, ein paar Worte zu sprechen, doch ich wollte nicht. In Indien habe ich sehr viel über Swami Vivekananda geschrieben, und es wäre ein Leichtes gewesen, über ihn eine Rede zu halten. Doch anstelle zu sprechen, veranstaltete ich neununddreißig Friedenskonzerte, um damit die Anzahl seiner Lebensjahre, die er auf dieser Welt verbrachte, zu würdigen. Stille ist um ein Vielfaches produktiver als eine äußere Rede.

Herausgeber: Wie gelang es den Leuten in Hawaii, Sie zum Sprechen zu bewegen, nachdem das den Leuten in Chicago misslang? Nach Ihrem jüngsten Konzert an der Universität im Hawaii-Manoa-Campus hielten Sie für das Matsunaga Friedensinstitut einen Vortrag, bevor Sie vom Zentralrat mit einem Friedenspreis geehrt wurden.

Sri Chinmoy: Manchmal bin ich meinen Schülern ausgeliefert und den Versprechen, die sie den offiziellen Stellen geben. Sonst hätte ich die Auszeichnung in Stille übernommen und hätte auch meine Dankbarkeit in Stille angeboten. Doch wenn meine Schüler jemandem versprechen, dass ich eine Rede halten werde, oder wenn ich auf irgendeine Weise überrumpelt werde, dann öffne ich meinen großen Mund und sage: „Ja, ich werde sprechen.“ Später dann erhalte ich davon aber keine Freude, denn ich weiß, dass die Menschen im Publikum von meiner Stille viel mehr erhalten hätten.

Wenn jemand eine Rede hält, so empfindet er, dass er ein besserer Mensch ist als seine Zuhörer. Er fühlt: „Ich besitze alle Weisheit, und du kamst hierher, um etwas von dieser Weisheit zu erhalten. Wenn du mir nicht zuhörst, wirst du weiterhin ein Gefangener der Unwis­sen­heitsnacht bleiben.“ Wenn jemand einen Vortrag hält, fühlt er sich überlegen. Niemals denkt er daran, dass eigentlich das Publikum ihm einen Gefallen erweist, indem es ihm hilft, seine guten Qualitäten zum Vorschein zu bringen. In der Theorie mag ein Lehrer behaupten, dass er, wenn er lehrt, ebenso lernt. Doch insgeheim fühlt der Lehrer, dass er sein überlegenes Wissen mit seinen Schülern teilt. Er glaubt, dass seine Zuhörer Bettler sind und er ihnen alles geben muss.

Wenn ein Lehrer aber mit seinen Schülern meditiert, so empfindet er weder seine Schüler als Bettler noch halten sie sich selbst dafür. Der Lehrer hebt seine Schüler empor und sie erheben ihn ebenfalls. Wer wird in der stillen Meditation schon sagen, der eine sei überlegen und der andere unterlegen? Es ist eine Einsseinsfamilie. Wenn ein Vater eine Straße entlang geht, und sein kleiner Sohn ihm folgt, so denkt der Vater nicht: „Ach, du bist so ein kleiner Junge. Was willst du hier? Mit mir kannst du nicht gehen.“ Nein, der Vater ist sehr glücklich und stolz darauf, dass sein kleiner Sohn ihm folgt. Und das Kind hat vor der Größe und der Stärke seines Vaters keine Angst, denn es weiß, dass es eines Tages erwachsen sein wird und ebenso stark und groß sein wird wie sein Vater.

Wenn Ihre Strebsamkeit stärker ist als meine – was macht das schon? Wenn ich einen Tropfen Strebsamkeit besitze, so biete ich diesen Tropfen dem Ozean an. Wenn Sie zehn, zwanzig oder hundert Tropfen besitzen, werden Sie diese ebenfalls in den Ozean fließen lassen. Wenn ein Tropfen in den Ozean eintritt, verliert er seine Identität und wird eins mit dem unendlichen Ozean. Wenn Sie daher Ihre Tropfen anbieten und ich die meinen, so werden wir beide ein Teil des Strebsamkeits-Ozeans.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet, Teil 2, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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