Die Unvollkommenheiten der Welt

Frage: Warum hat Gott all dieses Elend und all diese Unglückseligkeit in der Welt geschaffen? Warum machte er den Menschen nicht schon von Anfang an vollkommen?

Sri Chinmoy: Gott hätte Seine Schöpfung mit Vollkommenheit beginnen können. Aber das war glücklicherweise oder unglücklicherweise nicht Seine Absicht. Gott wollte durch Unwissenheit zum Wissen gelangen, durch Begrenztheit zur Fülle, durch den Tod zur Unsterblichkeit. Das Elend, die Wirren, die Frustration und die Verzweiflung, durch die wir in der physischen Welt gehen, sind nichts als Erfahrungen auf unserem Weg zum letzten Ziel. Und wer macht letzten Endes diese Erfahrungen? Gott und Gott allein. Gott ist ein Göttlicher Spieler. Er spielt Sein göttliches Spiel und Er kennt das letzte Ende. Je mehr wir spielen, desto bewusster werden wir uns der Tatsache, dass wir nichts tun und nichts tun können. Wir alle sind Instrumente. Jeden Augenblick enthüllt sich Gott in und durch uns, trotz der Tatsache, dass wir zwischen uns selbst und Gott eine weite Kluft sehen und erschaffen.

Als Gott die Welt erschuf, gab Er jedem Individuum ein sehr begrenztes Maß an Freiheit. Leider haben wir diese Freiheit missbraucht. Er gab jedem Menschen begrenzte Fähigkeit. Aber wir haben diese Fähigkeit für den falschen Zweck gebraucht. Früh am Morgen wissen wir, dass wir die Zeit haben, zu tun, was immer wir wollen. Wir wissen, dass wir morgens um halb sechs Uhr zu Gott beten und seine Freude und Liebe empfangen können. Aber statt früh aufzustehen, stehen wir sehr spät auf. Was noch schlimmer ist, wir meditieren überhaupt nicht. So seht ihr, wie wir unsere begrenzte Freiheit und Fähigkeit missbrauchen. Wie wir Gottes wertvolle Anteilnahme und Sein Mitgefühl für uns missbrauchen.

Alle großen spirituellen Meister – Krishna, Buddha, Jesus usw. – verwirklichten die höchste Wahrheit. Aber als sie der Welt ihre eigenen Erkenntnisse anbieten wollten, lachte die Welt über sie. Die Wahrheit zu verwirklichen ist etwas, die Wahrheit zu manifestieren etwas anderes. Was ihre Verwirklichung anbelangte, waren sie vollkommen, aber wenn es um die Manifestation ging, wurden die meisten spirituellen Meister nicht akzeptiert. Das Erd-Bewusstsein verneinte ihren inneren Reichtum. Sogar die eigenen Schüler der Meister verrieten sie oder hörten nicht auf sie. Aber warum sträubt sich das Erd-Bewusstsein, wenn es im Begriff ist, etwas Göttliches und Erfüllendes zu erhalten? Weil es in Gebundenheit und Unwissenheit verbleiben will. Ein Kamel frisst einen Kaktus und sein Maul blutet. Aber ein paar Stunden später frisst dasselbe Kamel erneut vom Kaktus und blutet wieder.

Gott will, dass wir vollkommen und erfüllt sind, aber wenn wir tief in uns gehen, sehen wir, dass wir mit unserem Vergnügen, unseren Begierden, unserem begrenztem Bewusstsein, mit Eifersucht, Zweifel, Furcht und negativen Gedanken zufrieden sind. Menschen als solche wollen keine wirkliche Freude. Was sie wollen, ist Vergnügen und das ist etwas völlig anderes. Wie können wir Gott tadeln, wenn wir mit etwas Ungöttlichem zufrieden sind? Wie können wir sagen, dass Er uns nicht das Richtige gibt? Wir müssen wissen und fühlen, dass Gott alles für uns tut. Zu Seiner auserwählten Stunde wird Er uns die höchste Verwirklichung gewähren. Wenn wir strebsam sind und in das Höchste eingehen, ist Er es, der uns zu dem uns bestimmten Ziel bringt. Und wenn wir es nicht tun wollen, sagt Gott: „Schlaf, Mein Kind, schlaf. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.“

Schaut umher und seht, wie viele Leute wirklich Gott wollen. Die meisten Leute finden keine fünf Minuten am Tag, um auf Gott zu meditieren. Aus Tagen werden Wochen und aus Wochen werden Monate, und sie haben nicht einmal fünf Minuten lang meditiert. Gott kommt in ihrem Leben zuletzt. Wenn jemand im Sterben liegt, rufen sie vielleicht: „Oh Gott, oh Gott, oh Gott!“ Aber wie viele Male sprechen diese Leute die Namen ihrer eigenen Kinder aus, und wie viele Male den Namen Gottes? Gott ist unser göttliches Kind! Er bringt die Botschaft der Vollkommenheit, und nicht jene, über die wir den ganzen Tag nachdenken.

In der äußeren Welt sehen wir Begrenzungen, Unvollkommenheiten, Zweifel, Furcht und Tod. Aber in der inneren Welt sehen wir Licht, Frieden, Glückseligkeit und Vollkommenheit. Wenn wir uns bewusst mit Gottes Bewusstsein identifizieren und in ihm leben, gibt es keine Unvollkommenheit. Es ist alles Vollkommenheit. Aber wenn wir nicht im Göttlichen Bewusstsein leben, sind wir natürlich der Unvollkommenheit der äußeren Welt ausgesetzt. Ein Sucher nach dem Höchsten, der im Höchsten lebt und eins mit Seinem Bewusstsein ist, sieht und fühlt, dass sein Bewusstsein und sein inneres und äußeres Leben Projektionen von Gottes ewig-transzendierender Vollkommenheit sind, die in die vollkommene Vollkommenheit wachsen.

Die Welt der Verwirklichung und der Manifestation kann nur durch unsere Strebsamkeit aufgebaut werden. Wenn es in unserem Herzen Strebsamkeit gibt, wird schlussendlich die Vollkommenheit dämmern. Nur wenn jeder Einzelne das Lied der Unendlichkeit, Ewigkeit und Unsterblichkeit singen will, kann Gott hier auf der Erde die Botschaft der Vollkommenheit verkünden. Nur wenn wir Gott als ganz unser Eigen annehmen, kann Er uns geben, was Er hat und was Er ist.

Sri Chinmoy, Primer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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