Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem befreiten und einem verwirklichten Menschen?

Sri Chinmoy: Befreite Menschen gibt es viele, doch zwischen Befreiung und Verwirklichung besteht ein großer Unterschied. Ein befreiter Mensch ist von Unwissenheit, irdischen Unvollkommenheiten und Schwächen befreit. Nun mag er sich zwar davon befreit haben, aber er hat immer noch eine gewisse Angst davor, angegriffen zu werden und seine Befreiung wieder zu verlieren. Nur zu gut kann er sich daran erinnern, wie sehr er leiden musste, bevor er die Befreiung erlangte! Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder in die Unwissenheit zurückfallen wird, nicht sehr groß; aber dennoch hat er Angst davor. Der verwirklichte Mensch hingegen ist mit Gott untrennbar eins geworden. Für ihn ist Himmel und Hölle ein und dasselbe; alles ist für ihn gleich, denn er weiß, dass Gott überall ist. Selbst wenn er schlimme Dinge tun würde – er weiß, dass Gott ihn immer festhalten wird, unabhängig davon, ob er Gott festhalten kann oder nicht. Verwirklichte Menschen haben den Zustand des Einsseins erreicht. Verwirklichung ist Einssein, während Befreiung nur die Befreiung von Leiden ist.

Befreite Menschen sind verwirklichten Yogis also weit unterlegen. Sie mögen zwar von der Unwissenheit befreit sein, aber sie sind nicht vierundzwanzig Stunden am Tag eins mit dem Höchsten. Sie werden nichts Schlechtes tun; sie werden nicht wieder in den Vergnügungen der Unwissenheit schwelgen. Doch ein verwirk-lichter Yogi ist weit, weit über die Unwissenheit hinausgegangen. Und selbst wenn er in die Unwissenheit eintaucht, macht ihm das nichts aus, denn er steht darüber.

Auf der Stufe der Befreiung kann man niemanden erleuchten. Hier kann man jemandem zwar Inspiration schenken und sein inneres Streben vergrößern, aber nicht Verwirklichung gewähren. Befreite Menschen können uns nur dazu motivieren, an unserer eigenen Befreiung zu arbeiten. Wer hingegen verwirklicht ist, hat nicht nur seine eigene Verwirklichung erlangt, sondern kann auch Schüler annehmen, um deren Verwirklichung er sich dann bemüht. Der befreite Mensch kann sehr rein, ja sogar heilig sein, aber er wird nicht einen einzigen schlechten Menschen umwandeln können. Er betrachtet diese als wirklich schlecht und hat Angst davor, von ihnen wieder in die Unwissenheit zurückgezogen zu werden. Ein verwirklichter Yogi jedoch wird sagen: „Ich sehe Gottes Gegenwart in dir“, und er wird unter den schlechten Menschen bleiben, um ihre Natur zu verwandeln.

Befreite Menschen streben gewöhnlich nicht die Umwandlung der menschlichen Natur an. Wenn jemand, der völlig befreit ist, sie dennoch anstrebt, wird Gott sie der betreffenden Person unweigerlich gewähren. Für gewöhnlich jedoch will der kurz vor der Befreiung stehende Mensch nur von seinen Anhaftungen und der Unwissenheit entbunden werden, wohingegen der verwirklichte Mensch im Verlauf seiner Verwirklichung völlig transformiert wird.

Darüber hinaus besteht auch wieder ein sehr großer Unter-schied zwischen einem Yogi und einem Avatar. Ein Yogi kann zwar im Grunde alles tun, aber nur in beschränktem Maße. Er wird ein Boot haben und darin einige Passagiere befördern können. Doch ein Avatar ist für die ganze Welt da, und auch sein Boot ist für alle da.

Sri Chinmoy, Die Seele und der Vorgang der Wiedergeburt, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
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