Teil V — Der Himmel

Frage: In deinen Gedichten sprichst du von der Gleichgültigkeit des Himmels, aber Gott ist doch alles andere als gleichgültig. Kannst du mir das erklären?

Sri Chinmoy: Sagen wir, Gott sei der Vater, der Himmel sein Sohn und der Sucher dessen jüngerer Bruder. Der jüngere Bruder weint; er braucht Hilfe von seinem Vater oder von seinem Bruder. Innerlich ist der Vater voller Anteilnahme für seinen jüngeren Sohn, aber er ist nicht immer erreichbar, weil er im Büro arbeitet. Der ältere Bruder wäre zwar zu Hause, aber er ist so sehr mit seinen Hausaufgaben und anderen Dingen beschäftigt, dass er seinem armen kleinen Bruder keine Aufmerksamkeit schenkt. Der Vater hingegen ist voller Liebe und Fürsorge, und sobald er nach Hause kommt, bringt er dem jüngeren Sohn all seine Zuneigung entgegen.

Für den jüngeren Bruder ist es äußerst schwierig, ohne Hilfe zum Vater zu gelangen. Nun sind die kosmischen Götter und Göttinnen für den Sucher wie ältere Geschwister. Doch einige von ihnen sind auf ihre Art eifersüchtig. Diese Erfahrung haben die meisten spirituellen Meister gemacht. Zu Beginn unterstützen die kosmischen Götter und Göttinnen den Sucher auf seinem Weg nach oben, doch sobald dieser sich dem Gipfel nähert, lassen sie ihn nicht nur im Stich, sondern versuchen sogar zu verhindern, dass er sie übertrifft. Dies ist schon unzählige Male vorgekommen.

Angenommen jemand ist auf einen Baum geklettert und du befindest dich am Fuße des Baumes. Du kannst nicht klettern und so kommt diese Person zu dir herunter und bringt es dir bei. Daraufhin beginnst du hinaufzuklettern, während dein Lehrer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt und auf dich wartet. Sobald du jedoch seine Höhe erreicht hast, ist er nicht mehr bereit, dir weiterzuhelfen, denn er hat den Gipfel selbst noch nicht erreicht und ist daher unsicher. Gestern bist du noch hilflos am Boden gestanden und so brachte er dir das Klettern bei. Aber heute bist du nahe daran, deinen Lehrer zu übertreffen. Warum sollte er das zulassen? Wenn er jedoch weise wäre, würde er aufgrund seines Einsseins mit dir sagen: „Er ist doch mein kleiner Bruder. Warum sollte er mich nicht übertreffen dürfen? Schließlich ist seine Errungenschaft auch meine Errungenschaft!“

Ein Sprichwort sagt: „Jeder will gewinnen, aber nicht gegen seinen eigenen Sohn und seine eigene Tochter.“ Gott weiß, wie weit dieses Sprichwort zutrifft. In Amerika habe ich etwas beobachtet, das mir in Indien völlig unbekannt war: dass Mütter auf ihre Kinder wirklich eifersüchtig sein können. Nicht alle, aber doch viele der Mütter und Väter, die unser Meditationszentrum besucht haben, waren direkt oder indirekt auf ihre Kinder eifersüchtig. Zu Beginn bringen die Eltern ihren Kindern bei, wie man effizient lernt oder selbstlos handelt. Danach verkünden sie stolz: „Meine Tochter hat dieses, mein Sohn jenes getan.“ Wenn die Welt ihren Kindern dann Anerkennung zollt, mögen sie sich darüber auch durchaus aufrichtig freuen. Manchmal jedoch brennt ihnen das Herz, weil sie selbst vielleicht kein Diplom gemacht oder weniger als ihre Kinder erreicht haben. Das kommt von ihrem Gefühl der Trennung.

Wie kannst du im Kugelstoßen Erfolg haben, wenn du deine Finger als voneinander getrennt betrachtest? Der kleine Finger besitzt viel weniger Kraft als die anderen, doch beim Kugelstoßen müssen alle Finger zusammenarbeiten. Wenn du das Gefühl hast, dieser kleine Finger sei nutzlos und es wäre besser, ihn gar nicht zu besitzen, wirst du bald bemerken, dass du ohne ihn hilflos bist. Wenn der Stärkere die Schwächeren ausschließt, werden letztlich alle leiden.

Zu Beginn mag der Stärkere prahlen, doch wenn der Schwächere stärker wird, fürchtet der Überlegene, vom Schwächeren übertroffen zu werden. Der einzig wirklich Überlegene aber ist Gott. Er ist immer überlegen, aber Er fühlt sich nicht so und handelt auch nicht danach. Er weiß, dass wir alles, was Er ist, auch in uns tragen. Für Ihn gibt es keine Trennung. Sein Herz ist mein Herz. Er weiß, wer Er ist und wer ich bin. Er ist der Schöpfer, und der Schöpfer trennt sich nie von seiner Schöpfung. Aber der Himmel ist eben nicht der eigentliche Schöpfer. Er fühlt sich nicht immer eins mit der Schöpfung und deshalb kommt es immer wieder zu Problemen. Gott identifiziert Sich mit Seiner Schöpfung und daher betrachtet Er Seine Schöpfung als nicht von Seiner Wirklichkeit getrennt.

Sri Chinmoy, Die Seele und der Vorgang der Wiedergeburt, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2007
Übersetzungen dieser Seite: Italian , Czech
Diese Seite kann zitiert werden unter Verwendung des Zitierschlüssels spr 45