Frage: Du sagtest, dass der Wettlauf etwas für die Schnellen ist. Manche Menschen sind von Geburt an mit viel natürlicher Dynamik ausgestattet. Kann man Schnelligkeit alleine durch Willenskraft entwickeln, wenn man sich auf einem spirituellen Weg befindet, aber nicht so viel Energie hat?

Sri Chinmoy: Absolut, absolut! Der Wettlauf gehört den Schnellen. Doch Schnelligkeit kommt auch vom Glauben und durch Gnade. Dein Beitrag ist dein Glaube, und Gottes Beitrag ist Seine Gnade.

Nimm mich als Beispiel. Ich wollte kein Weltmeister im Gewichtheben werden – nicht im Geringsten. Doch ich war voller Glauben an den Supreme. Mein Glaube war: wenn der Supreme will, dass ich schwere Gewichte hebe, so kann Er sie ganz leicht in und durch mich heben. Diesen Glauben besaß ich und ich besitze ihn noch immer. Wenn Er wirklich will, dass ich etwas tue, dann wird Er es in und durch mich vollbringen.

Es existiert die Theorie, dass man nicht zu einem Poeten gemacht werden kann, sondern als Poet geboren werden muss, doch ich stimme mit dieser Theorie nicht überein. Manche Menschen sind tatsächlich geborene Poeten, das ist wahr. Doch wenn ein Sucher ein Dichter werden möchte, kann Gnade von oben herabkommen und diesen Menschen in einen ausgezeichneten Dichter verwandeln. Dies ist auch im Sri Aurobindo Ashram geschehen. Sri Aurobindo hatte einige Schüler, die ausgezeichnete Dichter geworden sind, die es aber nicht vom Anfang ihres Lebens an waren. Ihre dichterischen Fähigkeiten lagen vorher in weiter Ferne.

Wenn du einmal das spirituelle Leben begonnen hast, ist es wie bei einem Fluss, der in den Ozean mündet. Wenn der Fluss danach strebt, wird der Ozean sofort zu ihm kommen und ihn empfangen. Heute las ich zufällig ein Buch über einige unserer indischen Heiligen. Da stand geschrieben: „Wer behauptet, Gott würde nicht ungeduldig sein?“ Diese Frage wurde von einem Meister auf sehr emotionale Weise gestellt. Ich fragte mich selbst: „Wie kann Gott ungeduldig werden?“ Dann erklärte er: „Gott strebt zweifellos ungeduldig danach, einen wahrhaft ergebenen Menschen zu sehen, ihn zu treffen und sich mit ihm zu unterhalten.“ Diese Theorie ist von einem bestimmten Standpunkt aus absolut wahr.

Um auf den Punkt zurückzukommen: wenn sich jemand darum bemüht, Sänger oder Athlet zu werden, oder in einem anderen Bereich des Lebens zu glänzen, braucht er nicht unbedingt Talent. Gott kann ihn mit diesen Talenten und Fähigkeiten ausstatten. Meine Philosophie lautet, dass unsere Kapazität ein Prozent ausmacht, und dass die restlichen neunundneunzig Prozent Gottes Kapazität, Gottes Gnade sind. Aber derselbe Gott hat uns auch dieses eine Prozent an Fähigkeiten gegeben.

Hier gibt es viele Schüler, die sehr gute Leistungen beim Laufen, beim Singen und bei anderen Aktivitäten bringen. Wären sie mit ihren eigenen Fähigkeiten allein geblieben, hätten sie den Fortschritt, den sie über die Jahre in diesen Bereichen gemacht haben, nicht erzielt. Der Supreme in mir war äußerst, äußerst großzügig. Wenn ihr glaubt, dass ihr auf einem bestimmten Gebiet diese Art Fortschritt erzielt habt, weil ihr sehr schwer dafür gearbeitet habt, so möchte ich euch sagen, dass das nicht stimmt. Andere haben vielleicht noch viel härter gearbeitet als ihr.

Ich ging oft in ein Sportstudio. Der Besitzer war ein ehemaliger Mr. Universum. Er war ein sehr netter Mensch, der mich immer ermutigte. Als er meine Fähigkeiten zum Gewichtheben sah, sagte er: „Sie schaffen es, Sie schaffen es!“ Später erklärte er mir seine Theorie, wie ich es geschafft habe. Er sagte, dass ich immer ein klein wenig oberhalb meines Kopfes bleibe. Er meinte, dass er sein ganzes Leben lang das Gewichtheben sehr hart trainiert habe. Verglichen mit ihm, sagte er, hätte ich gar nichts trainiert. Wie war es also möglich, dass ich so schwere Gewichte heben konnte? Er sagte mir, dass er diese schweren Gewichte niemals hätte heben können, aber ich war dazu in der Lage, weil ich ein klein wenig über meinem Kopf lebe.

Ich möchte aber sagen, dass ich in meinem Herzen lebe. Ich lebe sehr tief in meinem Herzen. Das ist der Grund, warum ich schwere Gewichte heben kann. Wenn auch du in deinem Herzen leben kannst, wird die Gnade von oben sehr mächtig und äußerst großzügig herabströmen.

Momentan brillierst du vielleicht noch auf keinem Gebiet, aber nur weil du mit dieser Fähigkeit nicht geboren wurdest, darfst du nicht sagen, dass ein Versuch nutzlos sei. Nein! Wenn du die Inspiration und das innere Streben aufbringst, etwas zu erreichen, ob das nun im musikalischen oder im sportlichen oder in einem anderen Bereich ist, wird die Gnade herabkommen.

Wo ist das Talent in meinem Fall? Manche Leute sagen, ich sei ein Künstler. In meiner Familie schlug niemand diese Richtung ein; niemand hatte künstlerische Fähigkeiten vorzuweisen. In der Grundschule hatten wir einmal die Woche Kunstunterricht, doch habe ich jemals daran gedacht, ein Künstler zu werden? Und habe ich jemals daran gedacht, ein Gewichtheber zu werden? Und so wie diese Bereiche, gibt es viele, viele andere Bereiche, in die ich mich vorgewagt habe, ohne eine entsprechende Ausbildung zu haben.

Mein Ziel im Bereich der Literatur war es, zweihundert Bücher zu schreiben. Aber dann ging ich weit, weit über dieses Ziel hinaus. Manchmal, wenn Gott mit dir zufrieden ist, kann es geschehen, dass Er über dein selbst festgelegtes Ziel lacht. Er sagt: „Du bist solch ein Narr! Ich weiß, wie deine Empfänglichkeit aussieht.“ Und dann gehst du mit der Gnade Gottes weit, weit, weit über alles hinaus, was du vorher je getan hast. Ich hatte auf dem Gebiet der Literatur ein Ziel festgelegt – ich wollte nicht den Himalaya besteigen, ich wollte bloß einige Meter weit gehen. Doch die Gnade Gottes befähigte mich, höher und höher hinauf zu klettern.

Ich sage immer, unser Ziel ist kein fixiertes Ziel. Das heutige Ziel ist der morgige Ausgangspunkt. Wer gibt uns die Fähigkeit? Jemand über uns, jemand in uns schenkt uns die Fähigkeit. Warum schenkt Er sie nicht anderen? Wir müssen sagen, dass Er mit uns zufrieden ist. Das bedeutet, dass wir etwas Gutes für Ihn vollbracht haben. Wenn jemand etwas Gutes für Gott getan hat, bleibt Gott dieser Person nichts schuldig.

An diesem Punkt möchte ich sagen, dass viele, viele Menschen über die Jahre dem Supreme in mir gedient haben. Vielleicht werde ich euch im äußeren Leben Dinge schuldig bleiben; doch in der inneren Welt werde ich niemals, niemals irgendjemandem etwas schuldig bleiben. In der inneren Welt werde ich euch mit Gewissheit mehr geben, als ihr verdient. Wenn ich euch etwas für euer inneres Streben und für die Hingabe, die ihr über die Jahre dargebracht habt, geben kann, so werde ich das gewiss tun und ich hoffe, dass es all die Dinge aufwiegt, die ihr für mich getan habt.

Viele von euch dienen mir äußerlich auf vielfältige Weise, und es stimmt, dass ich euch – äußerlich – nicht hinreichend danke. Ich drücke meine Dankbarkeit manchmal nicht öffentlich aus, und einige Menschen fühlen, dass meine Dankbarkeit keine wahre Dankbarkeit sei, wenn ich sie nicht öffentlich kundtue. Doch ich sage euch, wenn ich euch meine Dankbarkeit privat – innerlich – anbiete, ist sie unendlich stärker, als wenn ich sie vor Publikum ausdrücke. Wenn ich euch meine Dankbarkeit äußerlich gebe, dann werden die Unsicherheit und die ungöttlichen Eigenschaften der anderen Menschen wie hungrige Wölfe versuchen, sie euch wegzunehmen. Doch wenn ich euch innerlich, privat oder in aller Stille, meine Dankbarkeit anbiete, und wenn euer Herz zu diesem Zeitpunkt empfänglich ist, dann kann ich euch versichern, dass euch niemand meine Dankbarkeit wegnehmen kann.

Alles, was ich euch in Stille gebe, wird euch niemand wegnehmen können. Aber wenn ich euch äußerlich wertschätze, wird es einige geben, die versuchen, meine Wertschätzung zu ergreifen und sie euch wegzunehmen. Wenn ihr andererseits sehr stark seid, wenn euer Glaube an mich, eure Liebe und eure Selbsthingabe an mich stark sind, kann euch niemand etwas wegnehmen. Doch es ist eine wirkliche Herausforderung und viele Menschen scheitern daran.

Sri Chinmoy, Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
Übersetzungen dieser Seite: Russian
Diese Seite kann zitiert werden unter Verwendung des Zitierschlüssels ybg 23