Frage: Wenn jemand vollkommen rein ist, besteht dann tatsächlich die Möglichkeit, dass er seine Reinheit wieder verliert?
Sri Chinmoy: Natürlich. Manche Menschen können absolut rein sein, aber sie können ihre Reinheit wieder verlieren. Verliert ein Kind nicht auch seine Reinheit? Hier liegt der Beweis. Wenn ein Kind einige Monate oder ein oder zwei Jahre alt ist – wenn das Kind ganz im Herzen lebt, bevor der Verstand sich entwickelt – ist es vollkommen rein. Wenn sich dann die anderen Teile seines Wesens zu entwickeln beginnen, wird es schwierig für das Kind, seine Reinheit aufrecht zu erhalten. Der Verstand tritt hervor, das Vitale tritt hervor, und so verliert das Kind seine Reinheit.Doch es gibt etwas, das man das innere Streben nennt. Wenn wir das spirituelle Leben beginnen, gestatten wir unserem Verstand nicht, falsche Gedanken zu denken oder uns in eine falsche Richtung zu führen. Der Verstand selbst kann nicht sagen: „Das ist rein; das ist unrein.“ Nein, nur das Herz vermag der Richter über die Reinheit zu sein. Das Herz wird der Richter sein – kraft seines bedingungslosen Glaubens an die Seele oder an etwas, das noch tiefer geht als das Herz.
Viele Menschen wissen nichts von der Existenz der Seele. Ich verwende den Begriff „Seele“, andere hingegen verwenden ihn vielleicht nicht. Aber sagen wir, sie wissen, dass es in ihrem Leben etwas gibt, das noch tiefer, schöner und unendlich mächtiger sein kann. An dieses Etwas müssen sie denken.
Das Herz kennt jeder. Jeder denkt dabei sofort an den Muskel, oder wir fühlen unser Herz einfach schlagen. Doch im Herzen ist noch etwas anderes. Lasst uns dies Seele nennen, oder Gott. Gott ist überall. Er ist allgegenwärtig, allmächtig, allwissend. Aber wenn wir auf das Herz meditieren oder uns darauf konzentrieren, werden entweder die Seele oder Gott uns sagen, was richtig und was falsch, was rein und was unrein ist.
Wenn der Verstand zum Richter wird, wird er viele Dinge, die falsch sind, als richtig bezeichnen. Und viele unreine Dinge wird er als rein ansehen. Der Verstand kann nicht der Richter sein; das Herz muss der Richter sein. Allerdings ist auch das Herz nicht der eigentliche Richter, denn es bittet die Seele oder Gott, der Richter zu sein. Wenn das Herz Glauben an die Seele oder an Gott hat, dann wartet es auf die innere Botschaft. Und wenn das Herz die Botschaft erhält, kann es den Verstand, das Vitale und den Körper rein erhalten.
Reinheit ist Einssein mit dem Willen Gottes. Wenn wir den Willen Gottes auf Gottes eigene Weise annehmen, ist immer Reinheit vorhanden. Doch um den Willen Gottes auf Gottes eigene Weise annehmen zu können, benötigen wir jeden Moment den Glauben an Gott. Für alles, was wir wollen, ob das nun Reinheit ist oder etwas anderes, ist das erste, was Gott uns fragen wird: „Glaubst du an Mich?“ Und wir müssen auch uns selbst fragen, ob wir an Gott glauben.
Die zweite Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: „Wie oft sind wir glücklich gewesen, wenn wir uns selbst auf unsere eigene Weise zufrieden gestellt haben, und wie oft waren wir glücklich, wenn wir Gott auf Gottes eigene Weise zufrieden gestellt haben? Wir werden den Unterschied erkennen zwischen unserer Art und Weise, uns durch Gesagtes oder durch Taten glücklich zu machen, und jener Art und Weise, uns glücklich zu machen, indem wir auf unser Herz, auf unsere Seele oder auf unseren Meister hören.
Wenn du eine Sekunde lang Freude empfinden kannst, indem du mich zufrieden stellst, so kann diese Sekunde der Freude Tage, Wochen, Monate lang anhalten. Wenn du mich zufrieden stellen konntest, weil du etwas getan hast oder weil du zu etwas geworden bist, kannst du sofort sagen: „Ich habe meinen Guru auf seine eigene Weise zufrieden gestellt.“ Die Freude, die du davon erhältst, wird lange Zeit anhalten. Wenn du dich selbst zufrieden gestellt hast, indem du etwas auf deine eigene Weise getan hast, kannst du vielleicht auch glücklich sein, doch dieses Glücklichsein ist nichts im Vergleich mit dem anderen Glücklichsein – nichts, nichts, nichts.
Reinheit ist nur ein Teil der Göttlichkeit. Es gibt so viele andere gute Eigenschaften: Einfachheit, Aufrichtigkeit, Dankbarkeit, Einssein mit dem Willen Gottes usw. Diese guten Eigenschaften können wir verlieren, aber auch wieder zurück erlangen. Es ist nicht so, dass wir sie nicht zurückbekommen können, wenn wir sie einmal verlieren. Aber wenn wir damit fortfahren, unsere göttlichen Eigenschaften für Tage, Wochen, Monate und Jahre zu verlieren, sie immer, immer wieder zu verlieren, haben wir keine Lust und keine Strebsamkeit mehr, sie zurück zu erlangen. Das ist, was geschieht. Nicht nur die Reinheit, sondern alle guten Eigenschaften, die ein Sucher besitzt, kann er verlieren, verlieren, verlieren.
Wahre Reinheit ist dein Einssein mit dem Willen Gottes und dein zielgerichteter Glaube an den Willen Gottes. All die göttlichen Eigenschaften können in deinem Einssein mit dem Willen Gottes gefunden werden. Wenn du willst, dass diese göttlichen Eigenschaften erblühen, wenn du sie unendlich und reichlich steigern willst, dann ist dies der Weg. Es gibt keine göttliche Eigenschaft, die nicht in grenzenlosem Ausmaß gesteigert werden kann, wenn man ständiges und bewusstes Einssein mit dem Willen Gottes hat.
Ich möchte euch eine lustige Geschichte über das Einssein mit dem Willen des Meisters erzählen. Eines Tages bat ich einen meiner „berühmten“ Schüler, etwas zu tun. Ich sagte zu ihm: „Bis jetzt habe ich dich gebeten, etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu tun, doch dieses Mal bitte ich dich, es auf eine andere Art und Weise zu tun. Ich stelle es ganz klar. Nun sage mir, worum ich dich gerade gebeten habe.“
Er wiederholte, was ich gesagte hatte. Dann tat er ganz genau das Gegenteil! Ich fragte: „Was habe ich dich gebeten zu tun?“ Er wiederholte noch einmal meine Bitte.
„Warum hast du dann etwas anderes getan?“ fragte ich ihn. Er antwortete: „Gewöhnlich bittest du mich, etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu tun.“
Ich hatte ihn gebeten, etwas auf die eine Weise zu tun, und er hatte meine Bitte wiederholt. Dann machte er es auf die andere Weise! Ich sagte zu ihm: „Jahrhunderte lang meditierte ich in den Höhlen des Himalajas und betete zu Gott. Wofür? Nur damit ich einen Schüler wie dich bekomme. Gott erhörte meine Gebete und hat dich zu mir geführt!“
Aber wer könnte diese Art von liebevollem, öffentlichem Kommentar besser tolerieren als dieser berühmte Schüler?