Frage: Unser wirtschaftlicher Erfolg wurde von der gesamten Welt zur Kenntnis genommen. Doch die tiefgründige Spiritualität Japans sticht im Moment noch nicht so hervor.

Sri Chinmoy: Dieser materielle Erfolg gründet sich auf schlaflose Bemühungen. Wir erreichen keinen Wohlstand, solange wir uns dafür nicht äußerst aufrichtig anstrengen. Japan mühte sich ohne Unterlass, um materiellen Fortschritt und Erfolg zu erzielen. Wer hat die anderen Länder gebeten, müßig zu sein, oder närrisch und stolz zu reden und dabei untätig zu bleiben?

Japan redet nicht; Japan handelt. Japan arbeitete ohne Unter-lass für seinen materiellen Erfolg und für seinen materiellen Wohl-stand. Wenn in uns kein inneres Erwachen stattfindet, können wir nirgendwo Fortschritt erzielen, ob dies nun den materiellen oder den spirituellen Bereich betrifft. Nun taucht die Frage auf, ob Japan in spirituellen Belangen genauso wach ist wie in materiellen Belangen. Ich möchte sagen, dass die Antwort darauf definitiv Ja ist. Japans Spiritualität und Japans materieller Fortschritt gehen Hand in Hand.

Vor einigen Minuten sprach ich davon, dass ich eine Blume sehe, wenn ich an Japan denke oder Japan betrachte. Was symbolisiert eine Blume? Sie symbolisiert Strebsamkeit. Wenn ich eine Blume erblicke, kommen sofort meine guten Eigenschaften zum Vorschein und ich versuche, ein guter Mensch zu werden. Und auf ähnliche Weise steigert sich meine eigene Strebsamkeit, sobald ich Japan betrachte.

Nun, woher kommt dieses innere Streben? Es kommt vom Herzen, in dem ein innerer Hunger vorhanden ist. Dies ist nicht nur der Hunger des Verstandes danach, wohlhabend zu werden, sondern auch der Hunger des Herzens danach, die Welt zu lieben und ihr die guten Eigenschaften des Herzens anzuerbieten. Ich kann Ihnen in aller Aufrichtigkeit mitteilen, dass der spirituelle Aspekt Japans ebenfalls äußerst ermutigend und höchst inspirierend ist.

Gestern besuchte ich die Statue Buddhas in Kamakura. Ich habe die meisten Länder dieser Welt besucht, mit Ausnahme einiger weniger Regionen. Ich war in vielen Ländern, die Buddha lieben und verehren. Ich stamme aus Indien und Buddha stammt aus Indien, doch seine Botschaft ist in fremden Ländern weiter verbreitet als in seinem eigenen Land, in Indien.

Andererseits gibt es kein Indien, kein Japan, kein Frankreich, kein Russland; es gibt nur eine Heimat, eine Weltfamilie. Die Welt gleicht einem Haus mit vielen Zimmern. Wenn Buddha in einem Zimmer nicht geschätzt wird, obwohl ihm das rechtmäßig gebühren würde, doch die Menschen in den anderen Zimmern ihn schätzen, ihn bewundern, ihn verehren und ihn lieben, so ist das ausreichend.

Nun möchte ich zu meiner Antwort zurückkehren. Ich war bereits in vielen Teilen der Welt, in denen man der Botschaft Buddhas folgt, sie verehrt und erfüllt. Doch wenn ich vor der Buddha-Statue in Kamakura stehe und ihr meine seelenvolle Ehrerbietung, meine gebetserfüllte Liebe und meine Bewunderung darbringe, spüre ich, dass mein Leben etwas äußerst Kostbares gesehen und erreicht hat. Was ich über Japan gesagt habe, stammt aus der tiefsten Überzeugung meines Herzens. Wenn ein Mensch fühlt, dass Japan spirituell ist, und wenn dieser Mensch dann vor der Buddha-Statue in Kamakura steht, so muss diese Person einfach die gesamte Spiritualität Japans in Buddha wahrnehmen; in Buddha, dem Sohn Asiens, dem geliebten Sohn Asiens.

Es ist sehr einfach, andere Nationen in Verruf zu bringen. Hingegen andere zu schätzen ist sehr schwer. Man braucht ein mächtiges Herz, um die guten Eigenschaften anderer zu schätzen. Heute Morgen habe ich einen Text zu diesem Thema verfasst, den ich gerne vorlesen möchte:

„Es ist in der Tat eine schwere Aufgabe für manche Menschen – auch für weltbekannte Persönlichkeiten – die erhabenen Errungenschaften anderer Menschen und fremder Nationen zu schätzen. Doch zu unserer großen Freude besuchte Präsident Gorbatschow nicht dieselbe Schule wie diese Menschen. Deswegen stimmte sein Herz am 19. April 1991, als er zum Japanischen Volkskomitee sprach, ein sehr schönes und zauberhaftes Lied für die Seele, für das Herz und für das Leben Japans an. So lautete seine Botschaft: „Wunderschöne Natur, Sakuras in der Blüte, die Kombination der Vergangenheit und der Gegenwart für den sichtbaren Durchbruch in die Zukunft, freundliche Menschen mit einem starken Gespür für Selbstachtung und Respekt gegenüber anderen, Neugier und Interesse am Leben, der Wunsch, Talente und Ambitionen Wirklichkeit werden zu lassen – kurz gefasst: das Japanische Volk ist ein gelungenes Zusammenspiel von Natur und Kultur. All dies ist sehr faszinierend und erweckt ein Gefühl liebevoller Zuneigung. Ich schätze mich glücklich, dass ich den lebendigen Puls dieses Landes spüren und mit meinen eigenen Augen seine Errungenschaften sehen durfte; die Errungenschaften, die Japan einen führenden Platz unter denen beschert hat, die in dieser Welt Fortschritt gemacht haben.“

Diese Wertschätzung hat Japan von Präsident Gorbatschow erhalten. Er sagte auch auf seine Weise, dass Japans Spiritualität ihren Ausdruck im materiellen Wohlstand findet. Die innere Schönheit wird durch den äußeren Wohlstand zum Ausdruck gebracht. Ein Besucher muss nicht viele Orte in Japan aufsuchen, um die Spiritualität Japans sehen und fühlen zu können.

Selbst wenn man einzig Kamakura besucht, reicht dies aus, um die enorme Spiritualität Japans zu finden. Die Schwingung, die von Kamakura ausgeht – nicht nur von der Statue, sondern von der Stadt selbst – verkörpert Spiritualität in überreichem Ausmaß. Kamakura alleine vermag das innere Streben eines jeden Menschen mit grenzenloser Spiritualität zu nähren.

Ich möchte aber auch noch ein weiteres Thema ansprechen. Wir alle wissen, dass Japan, was den materiellen Wohlstand betrifft, unglaublich schnell Fortschritt erzielt hat. Und jetzt, seit dem letzten Jahr, hat Japan auch Anspruch auf den schnellsten menschlichen Dynamo: Carl Lewis. Hier in Japan hat er den Weltrekord im 100-Meter Sprint gebrochen. Hier wurde er zum schnellsten menschlichen Dynamo. Und ich bin mir sicher, dass er von der Seele und vom Herzen Japans großen Segen erhalten hat. Er wurde zum schnellsten Menschen hier in diesem Land, das am schnellsten materiellen Erfolg und materiellen Wohlstand erreicht hat. Dies ist also eine sehr, sehr glückliche Erfahrung sowohl für Carl Lewis als auch für die Seele und für das Herz Japans. Ich fühle mich tief geehrt, dass er mir die Schuhe, die er in diesem Rennen getragen hat, zum Geschenk gemacht hat.

Sri Chinmoy, Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
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