Frage: Wenn wir nicht weit genug fortgeschritten sind, um dir all jene Fragen zu stellen, die wir stellen sollten, gibt es dann einen Weg, um diese Fragen zu finden?

Sri Chinmoy: Definitiv! Es gibt viele Fragen, die ihr mir nicht gestellt habt. Sie sind wie Lieder, die nicht gesungen wurden, oder wie Tränen, die nicht geweint wurden. Ich habe über eintausend Bücher geschrieben und doch könnte ich noch viel mehr anbieten. Spirituelle Meister haben immer das gleiche Problem. Sie verfügen über so viel Weisheit, so viel Licht, so viel Mitleid; all diese Dinge können sie der Menschheit anerbieten, doch die Menschheit nimmt sie nicht an, sie akzeptiert sie nicht. Die Menschen empfinden dazu keine Notwendigkeit. Was soll man tun, wenn die Menschheit die Weisheit der spirituellen Meister nicht braucht oder wenn sie die Bereitschaft, etwas zu empfangen, nicht besitzt?

Ich sage auch immer wieder, dass ihr mir diese Fragen nicht alle stellen müsst, wenn ihr sie nicht hervorbringen könnt. Es wird viele Fragen geben, die ihr selbst individuell beantworten könnt. Jetzt existieren noch viele Fragen, die ihr nicht beantworten könnt. Aber in der inneren Welt gibt es einen bestimmten Ort. Wenn ihr diesen Ort aufsuchen und dort an die Tür klopfen könnt, dann wird sich die Antwort unweigerlich einstellen.

Es gibt eine Frage, die all die Millionen von Fragen, die gestellt werden können, verkörpert, und diese Frage ist: Brauche ich Gott schlaflos und atemlos? Brauche ich Ihn wirklich? Wenn wir diese eine Frage nicht tief in uns tragen, dann werden wir auf alle Antworten endlos lange warten müssen. Wir brauchen nur eine Frage: Brauche ich Gott wirklich, verzweifelt, schlaflos und atemlos? In dieser einen Frage befinden sich die Antworten auf alle anderen Fragen.

Heute beantworte ich mit der Gnade Gottes eure spirituellen Fragen, doch ich möchte euch sagen, dass es keine spirituelle Frage gibt, vorhanden oder noch unbewusst, die ich nicht beantworten könnte. Wenn es um wissenschaftliche Fragen geht, so kann ich nichts tun, denn das ist nicht mein Bereich. Doch ich werde jede Frage aus der inneren Welt beantworten können. Wenn mein körperlicher Verstand die Antwort nicht weiß, kann ich in einer Sekunde meine Seele fragen oder die Antwort vom Supreme erhalten.

Ich brauchte Gott aufrichtig. Deswegen wurde Er zur Frage, deswegen wurde Er zur Antwort. Wenn auch du Gott wirklich brauchst, wird sich in deiner Frage ebenfalls schon die Antwort befinden. Was kann ich noch sagen?

In jeder Frage steckt die Antwort. Es kommt auf die Notwendigkeit an. Es kann sein, dass eine Person Gott fünf Minuten lang braucht, aber die nächsten zehn Stunden nicht mehr. Aber glaubt ihr nicht auch, dass diese Person viel schnelleren Fortschritt erzielen wird, wenn sie den fünf Minuten, in denen sie Gott braucht, auch noch die zehn Stunden hinzufügen kann?

Ich habe Tausende von Fragen beantwortet und vielleicht beantworte ich noch einige Tausend mehr. Doch das Entscheidende ist, wie viele Menschen aus diesen Tausenden von Antworten Nutzen gezogen haben. Ich habe viertausend Schüler. Glaubt ihr, dass es bei viertausend Schülern bleibt, nachdem ich diese Welt verlassen habe? Nein, mein Boot wird noch viel, viel mehr Passagiere aufnehmen! Millionen von Menschen, die nicht meine Schüler sind, werden meine Schriften lesen. Wenn sie meine Schriften jetzt noch nicht lesen beziehungsweise noch nicht lesen können, dann nur, weil meine Schriften noch nicht zur Verfügung stehen.

Doch ich muss auf keinen Preis, auf keine Auszeichnung warten, um in der Welt bekannt zu werden. Ihr werdet sehen, wie es in zwanzig oder dreißig Jahren, oder sogar schon in zehn Jahren sein wird. Meine Schüler werden noch zehn, zwanzig oder dreißig Jahre auf dieser Welt sein, vielleicht noch länger. Bald werdet ihr wissen, wie viele Tausende und Millionen von Menschen meine Bücher lesen. Die Zeit ist reif, aber leider sind die Bücher noch nicht verfügbar.

Um auf deine Frage zurückzukommen, ich habe bereits Tausende Fragen beantwortet. Und doch sind viele, so viele Fragen noch nicht gestellt worden. Ich besitze die Fähigkeit, Fragen zu beantworten und es bereitet mir auch Freude, das zu tun. Aus diesem Grund bitte ich euch um Fragen.

Ein jeder von euch kennt meine Philosophie sehr gut. Glaubt mir, meine Philosophie umfasst alle Philosophien. Die Essenz oder Quintessenz der Veden und der Upanishaden, die unsere indische Philosophie repräsentieren, und selbst die Bibel des Christentums sind alle in meiner Philosophie enthalten. Ich habe alles vereinigt und vielleicht bin ich darüber hinausgegangen. Selbst wenn einige Menschen nun sagen, ich sei nicht darüber hinausgegangen, so können sie zumindest zustimmen, dass ich den Duft der östlichen Spiritualität und der westlichen Spiritualität vereinigt habe. Ich verteile den Honig direkt vom Herzen, sehr behutsam, sehr liebevoll und sehr gütig.

Wenn ich die Möglichkeit erhalte, mehr Fragen zu beantworten, so werde ich sie beantworten. Einige Menschen haben definitiv Nutzen aus meinen Antworten gezogen. Doch zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass viele Menschen, deren direkter Meister ich nicht bin, größeren Nutzen aus meinen Schriften ziehen werden, als viele meiner gegenwärtigen Schüler. Zukünftige Generationen werden mich viel ernster nehmen als die jetzige Generation, viel ernster.

Wenn mich mehr Schüler der jetzigen Generation, die von Anfang an bei mir sind, ernster genommen hätten, wäre ich der Menschheit auch eine größere Hilfe gewesen. Ich hätte Menschen, die meinen Weg nicht bewusst oder offen angenommen haben, besser helfen können. Dies sage ich in aller Aufrichtigkeit.

Die sechzehn engsten Schüler von Sri Ramakrishna waren nur sechs Jahre lang bei ihm. Schaut euch ihre Empfänglichkeit an! Die letzten zwei oder zweieinhalb Jahre lebte Swami Vivekananda nicht mehr in seinem eigenen Haus. Die Schüler hielten sich die meiste Zeit im Haus des Meisters auf, um in dessen Gegenwart zu sein. Meine Schüler hatten mich dreißig Jahre lang, vielleicht sogar länger. Die Schüler Ramakrishnas nahmen ihn definitiv viel ernster, als viele meiner Schüler mich genommen haben.

Nun könnt ihr natürlich sagen, dass eine so lange Zeit mit dem Meister ein Segen oder ein Fluch sein kann. Ich kann dasselbe sagen: Schüler eine so lange Zeit zu haben, ist entweder ein Segen oder ein Fluch. Gott kennt die Wahrheit! Ich kann leicht sagen: „Die ersten zwei oder drei Jahre waren sie so gut, dass es ein Segen war. Nun ist es im Fall derjenigen, deren Bewusstsein gesunken ist, ein Fluch.“ Ihr könnt auf ähnliche Weise sagen: „Die ersten zwei Jahre nachdem wir auf den Weg gekommen sind, war Guru so voller Mitgefühl und Anteilnahme, dass es ein Segen war. Nun, da er uns nicht mehr anschaut, ist es ein Fluch!“ Doch wir kommen mit unserer Behauptung, dass es entweder ein Segen oder ein Fluch ist, nicht weiter. Nur indem wir zu etwas werden, indem wir jemand werden, machen wir Fortschritt.

Wenn ihr Das Vermächtnis von Sri Ramakrishna lest, werdet ihr bemerken, dass Sri Ramakrishna meistens am Abend mit seinen Schülern gesprochen hat. Sri Aurobindo führte einige Jahre lang mit einer kleinen Anzahl von Schülern ebenfalls Gespräche. Zu dieser Zeit beantwortete Sri Aurobindo viele, viele Fragen. Ich in meinem Fall habe vieles gesagt; und durch eure Gnade wurde auch alles aufgenommen. Ich habe auch vieles geschrieben. Es ist wie in einem Supermarkt. Es befinden sich Hunderte von Dingen im Supermarkt. Du nimmst dir, was dir gefällt und bringst es in das Zuhause deines Herzens; eine andere Person nimmt das, was ihr am besten gefällt und bringt es in das Zuhause ihres Herzens.

Es existieren einige Meister, die nichts geschrieben haben, die nichts gesprochen haben. Sie haben keine Gelegenheit erhalten, die höchste Wahrheit auszusprechen. Es gibt viele, viele Fragen, die ihr mir über die Jahre gestellt habt, die zum Beispiel nicht im Buch Das Vermächtnis verzeichnet sind. Ich kritisiere in keiner Weise Sri Ramakrishna oder seine Schüler. Sri Ramakrishna hätte jede spirituelle Frage beantworten können, doch seine Schüler hatten ihn nur sechs Jahre lang. Leider konnten sie ihm in dieser Zeit nicht alle Fragen stellen. Ich habe euch glücklicherweise bereits dreißig Jahre lang. Aber noch einmal, in diesem Moment schätzen wir uns glücklich, im nächsten Moment sind wir unglücklich.

Wenn man Sri Ramakrishnas eigene bengalische Worte in Das Vermächtnis liest und mit der englischen Übersetzung vergleicht, bemerkt man einen großen Unterschied. Das Englisch ist perfekt, doch wie könnte man den Atem, der den bengalischen Worten Sri Ramakrishnas innewohnt, in die englische Übersetzung bringen? Seine einfache, von Zuneigung durchdrungene dörfliche Sprache kann nicht übersetzt werden. Viele große Autoren haben es versucht, aber ich weiß nicht, wie weit sie ihm gerecht wurden, ganz gleich wie vollkommen ihr Englisch auch sein mag. Doch die Welt muss die Lehren Sri Ramakrishnas irgendwie erhalten. Wenn du keinen Nektar bekommen kannst, dann sei zumindest mit Milch zufrieden. Und wenn du keine Milch bekommen kannst, musst du dich mit Wasser begnügen. Das Wasser gibt dir zumindest Leben. Menschen, die der bengalischen Sprache mächtig sind, werden definitiv größeren Nutzen aus dem Original ziehen können.

Ich spreche und schreibe in englischer Sprache und ihr alle beherrscht die englische Sprache. Ihr könnt euch ebenso wie ich glücklich schätzen, dass ihr die Botschaft aus erster Hand bekommt.

Es gab eine Zeit, wo indische Gelehrte behaupteten, dass Mantren in der englischen Sprache unmöglich zum Ausdruck gebracht werden können. Sie prahlten damit, dass nur unsere Vorväter, die Vedischen Seher, die Sprache des Herzens, die Sprache der Seele beherrschen würden. Sie behaupteten, dass Mantren nur in Sanskrit existieren würden. Ich stimmte dieser Behauptung nicht zu, und es tut mir leid zu sagen, dass ich dem auch niemals zustimmen werde. Wenn man einen Vergleich ziehen muss, so existieren in der Sprache Sanskrit viel mehr mantrische, viel mehr Seelen-bewegende Äußerungen, als in der englisch sprechenden Welt. Doch zu sagen, dass die englisch sprechende Welt keine Mantren hervorgebracht hat, ist absurd. Viele, sehr viele Äußerungen in der englischen Sprache können als mantrische Äußerungen bezeichnet werden.

Sri Chinmoy, Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018
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