Frage: Wie sehr beeinflusst uns unsere Kindheit?

Sri Chinmoy: Das hängt von der Familie ab, das hängt von den Eltern ab, das hängt von der Umgebung ab. Wenn du aus einer religiösen Familie, aus einer spirituellen Familie stammst, dann besteht die Möglichkeit, dass dies auf deiner Stirn oder auf der Tafel deines Herzens geschrieben steht. Die Möglichkeit ist gegeben, dass die Saat, die von deinen Eltern gesät wurde, gedeiht, und zu einem großen Baum mit vielen Blüten und Früchten heranwächst.

Es hängt alles vom einzelnen Menschen ab. Es gibt viele Menschen, die als Kinder enorm viel Zuneigung bekommen haben. Das hat sie geprägt. Ich war extrem spitzbübisch, ich war berüchtigt, doch das hielt meine Eltern nicht davon ab, mir ihre Zuneigung zu schenken. Ich besitze noch immer diese Quelle, diese innere Quelle. Meine Eltern waren gut, freundlich und mitleidsvoll.

Manchmal bleiben die Zuneigung und das Mitgefühl der Eltern bis zum Lebensende eines Menschen erhalten, da sie das Leben dieses Menschen so sehr beeinflusst haben. Dann gibt es wiederum Menschen, denen nach fünfzehn oder zwanzig Jahren die guten Eigenschaften des Vaters oder der Mutter gleichgültig sind. Diese Menschen wollen auf sich alleine gestellt sein.

Eine bestimmte Schülerin gehört zu denjenigen, die sich die Stärke ihrer Eltern in Erinnerung gerufen haben. Als ihr Vater starb, war sie noch keine fünfzig Jahre alt. Aber schaut, wie viel Zuneigung sie ihrem Vater entgegenbrachte! Er konnte bereits nicht mehr sehen; er war blind. Wie liebevoll sie sich um ihn gekümmert hat! Wäre sie keine so gute Tochter gewesen, hätte sie sagen können, dass sie sich bereits um ihren Mann und ihre Kinder kümmern müsse. Doch die Zuneigung und die Liebe, welche sie von ihrem Vater als kleines Kind bekommen hatte, waren so fest und so immerwährend in ihrem Herzen verankert, dass sie am Ende seines Lebens voller Dankbarkeit ihm gegenüber war. Sonst hätte sie in den letzten Jahren seines Lebens sagen können: „Oh, nein – ich habe jetzt andere Dinge zu tun.“

Viele Kinder brechen die Beziehung zu ihren Eltern ab. Erst wenn ihnen dann zu Ohren kommt, dass ihre Eltern gestorben sind, tauchen sie für zwei, drei Tage auf. Einige Kinder kommen aber nicht einmal für einen Tag. Und, zu meinem größten Erstaunen, kann es sogar sein, dass sie im selben Bundesstaat leben und nicht kommen. Nicht einmal am Lebensende ihrer Eltern können sie für zwei oder drei Wochen kommen und sich um sie kümmern. Sie denken, dass jemand anders es tun wird, ihr Bruder oder ihre Schwester. Sie fühlen, dass sie ihre Rolle gespielt hätten, und dass die Eltern ihre Rolle gespielt hätten.

Alles hängt vom Einzelnen ab – wie viel er von der Zuneigung, Liebe, Süße und Zärtlichkeit seiner Eltern im Gedächtnis bewahren möchte. In manchen Fällen wollen die Eltern mehr und immer mehr, ganz gleich, wie viel du ihnen gibst. Ihre Ansprüche enden niemals. Was kannst du dann tun? Ich habe schon öfter Fälle wie diesen gesehen. Die Eltern stellen jeden Augenblick Anforderungen an ihre Kinder. Selbst wenn die Kinder schon dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt sind und ihre eigene Familie haben, lassen sie ihnen keine Freiheit. Sie werden am Morgen anrufen und sagen: „Tue dies für mich, tue jenes für mich.“ Was soll man in so einem Fall machen? Da gibt es keine eiserne Regel. Einige Eltern stellen fortlaufend Anforderungen. Sie sagen: „Weil ich deine Mutter bin“ oder „Weil ich dein Vater bin, musst du das tun.“ Diese Eltern sollten ebenso an das neue Leben ihrer Kinder denken.

Sri Chinmoy, Du gehörst Gott, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2018