Frage: Du hast uns einmal erzählt, es hätte einen Mann gegeben, der im letzten Augenblick Gott nicht verwirklichte, weil sein Guru ihm nicht half, seine Zweifel zu besiegen. Hätte der Guru dieser betreffenden Person helfen können, wenn er mächtig genug gewesen wäre?

Sri Chinmoy: Der Guru war mächtig genug. Er war zu dieser Zeit am Leben, doch leider hatte die betreffende Person einen Streit mit ihrem Guru. Der Guru war über sie verärgert und half ihr deshalb nicht. Doch er hätte es tun können. Hätte der betreffende Sucher sich nicht mit seinem Guru gestritten, dann hätte er Gott verwirklicht.

Sri Ramakrishna gab Vivekananda alles. Doch nachdem der Meister den Körper verlassen hatte, wollte Vive­kananda so viele Male zu Pahari Baba gehen, um noch einmal initiiert zu werden. Rama­krishna, der große Avatar, hatte ihn initiiert und ihm alles gegeben und dennoch wollte Vivekananda zu Pahari Baba gehen, um noch einmal initiiert zu werden. Auf diese Weise kann selbst ein großer Sucher wie Vivekananda dem Zweifel zum Opfer fallen. Nachdem Sri Ramakrishna gestorben war, ging Vive­kananda fünfzehn oder sechzehn Mal zu Pahari Baba und überlegte sich, ob er von ihm initiiert werden sollte. Schließlich erschien Ramakrishna mit einem besorgten Gesicht vor ihm und sagte: „Geh nicht, geh nicht!“

Die Schüler Vivekanandas sagen, er habe ein großes Herz gehabt und wollte für die Menschheit arbeiten. Dazu hätte er aber eine bessere Gesundheit gebraucht und wollte deshalb zu einem großen Okkultisten wie Pahari Baba gehen. Doch wirkliche Sucher würden einfach sagen, dass Rama­krishna seine Krankheit geheilt hätte, wenn es sein Wille gewesen wäre, dass Vivekananda auf der Erde bleibt, um für das Erdbewusstsein zu arbeiten. Für einen spirituellen Meister vom Format Sri Rama­krishnas wäre es ein Leichtes gewesen, eine solche Krankheit zu heilen, doch Vivekanandas Zeit war gekommen; er hatte seine Rolle gespielt.

Krishna war ein großer Avatar, dennoch traf ihn der Pfeil eines Jägers und tötete ihn. Doch wie viele Waffen gebrauchten die Kauravas in der Schlacht von Kurukshetra bei dem Versuch Krishna zu töten! Er streckte jeden mit seiner Sudarshana, seinem goldenen Diskus nieder. Er hatte die Macht, dem Tod zu entgehen, wenn er wollte. Doch Krishna wusste, dass er nur ein Spiel spielte. Als seine Rolle vorbei war, erlaubte er dem Pfeil eines Jägers, ihn zu töten.

Auch Vivekananda war ein spiritueller Held. Seine Rolle war vorbei, doch sein Vitales wollte auf der Erde bleiben. Aus diesem Grund ging er, noch während Sarada Devi (die Gefährtin Sri Rama­krishnas; Anm. des Autors) am Leben war, zu Pahari Baba. Selbst Vivekananda litt unter großen Zweifeln. Sogar im letzten Augenblick, als Sri Rama­krishna schon den Körper verließ, zweifelte Vive­kananda an ihm, worauf Ramakrishna sprach: „Derjenige, der Rama war, derjenige, der Krishna war, ist nun in einer Form Ramakrishna.“ In diesem Augenblick und bereits viele Male zuvor hatte Rama­krishna Vivekananda hohe Er-fahrungen gegeben. Ramakrishna gab ihm alles. Als Viveka-nandas Hingabe zum Vorschein kam, sagte er, dass es für Rama­krishna ein Leichtes wäre, aus einem Sandkorn Tausende von Vivekanandas zu machen. Hätte er diese Art von Glauben beibehalten, wäre er nie zu Pahari Baba gegangen, der Sri Ramakrishna unendlich weit unterlegen war. Doch so kann Zweifel wirken. Zweifel kann selbst einen Helden wie Vivekanada umhüllen. Zweifel hat die Macht, einen Löwen zu einer Hauskatze zu machen.

Sri Chinmoy, Avatare und Meister, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
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