Warum die Schüler nicht kommen

Eines Tages, während ein spiritueller Meister einen Spaziergang machte, traf er zufällig einen seiner früheren Schüler auf dem Gehweg.

„Venu“, sagte der Meister, „du stehst mir so nahe. Warum kommst du nicht mehr in meinen Ashram?“

Beschämt senkte der Schüler seinen Kopf und sagte: „Meister, ich muss ehrlich sein. Nur weil dieser Schurke Tushar zu dir geht, komme ich nicht mehr. Ich will sein Gesicht nicht mehr sehen.“

„Venu“, rief der Meister aus. „Was für ein Grund ist das denn?“ Der Meister machte eine kurze Pause und sagte dann traurig: „Ich habe von einem spirituellen Meister gehört, der zwei Frauen als Schülerinnen hatte: eine Inderin und eine Amerikanerin. Die Inderin und die Amerikanerin wurden enge Freundinnen. Leider hielt diese Freundschaft nicht lange an und bald standen sie mit­einander auf Kriegsfuß. Eines Tages kam die indische Frau zum Meister und sagte: ‚Meister, ich verlasse deinen Ashram.’ Der Meister fragte: ‚Warum, warum?’ Sie sagte: ‚Wenn diese amerikanische Dame die Gottverwirklichung erhält, dann brauche ich sie nicht. Es ist unter meiner Würde, etwas zu bekommen, das sie auch bekommt. Ich brauche deine Gottverwirk­lichung nicht. Ich könnte niemals mit etwas zufrieden sein, das sie auch bekommen könnte.’ Und nun, mein Venu, benimmst du dich genauso.“

Venu sagte: „Vergib mir, Meister. Ich weiß, meine Argumentation klingt absurd, aber allein die bloße Anwesenheit Tushars ist ein Dorn in meinen Augen.“

„Venu“, sagte der Meister, „es gibt noch mehr Schüler, die mich verlassen haben. Auch sie verließen mich aufgrund eines persönlichen Grolls gegen einen anderen. Auch sie stritten sich mit Schülern, die weiterhin in meinen Ashram kommen. Deiner Ansicht nach ist Tushar selbstverständlich ein schlechter Mensch. Aber weil er weiter meditiert, weil er immer noch in unserem Boot ist, wird er Gott ganz bestimmt früher verwirklichen als du.“

„Meister“, rief Venu aus. „Ich kann es nicht ertragen, dich das sagen zu hören!“

Der Meister fuhr fort: „Du hast den Weg wegen deiner Meinungsverschiedenheiten mit jemand anderem verlassen. Hier besteht unsere Schwierigkeit darin, dass es uns an Weisheit mangelt. Wir ziehen dabei nicht in Betracht, was wir uns damit selbst antun. Wenn wir an anderen etwas auszusetzen haben, stechen wir nur auf uns selbst ein und sonst gar nichts. Wir müssen immer versuchen weise zu sein, göttlich weise.“

Der Meister machte eine Pause. „Venu, lassen wir deine Schwierigkeiten mit Tushar einmal bei­seite. Was glaubst du, wie groß der Fortschritt ist, den du im Augenblick machst?“

Venu blieb still.

Der Meister sagte: „Was überaus schmerzt, ist die Tatsache, dass du viel mehr Inspiration und Strebsamkeit hattest, als du zu mir kamst. Das bedeutet, dass du vor vier, fünf oder sechs Jahren ein besserer Sucher warst als heute. Genau wie du besaßen andere Schüler äußerste Aufrichtigkeit, Hingabe und Strebsamkeit, als sie neu zu mir kamen. Manche meiner Schüler waren wirklich so rein, so göttlich; sie waren absolute Engel im wahrsten Sinne des Wortes. Sie waren so vielversprechend, dass sie es in dieser Inkarnation bis zur Schwelle der Verwirklichung oder tatsächlich bis zur Gottver­wirk­lichung geschafft hätten. Nun geben uns diese Schüler eine andere Erkenntnis. Auf ihrem Weg zur Gottverwirklichung haben sie versehentlich etwas anderes als Gott verwirklicht und das ist die Unwissenheit. Nun, was ist mit ihnen geschehen? Um sie zu beschreiben, kann ich nur den Begriff „gefallen“ verwenden; und dieses Wort trifft auch voll auf dich zu, mein Sohn.“

Venu vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Meister, was kann ich jetzt tun?“

„Mein Sohn, es ist nichts verloren. Du hast die Leiter deiner spirituellen Entwicklung nicht verloren, sie ist direkt vor dir. Während du hinaufgestiegen bist, hattest du den Halt unter deinen Füßen verloren, deshalb bist du hinuntergefallen. Doch nun kannst du wieder versuchen hinaufzusteigen. Aber du musst stets aufpassen, dass du deinen Fuß auf die richtige Sprosse stellst. Dann wirst du wieder die Höhe erreichen können, auf der du vor ein paar Jahren warst. Was du einst erreicht hattest, ist nicht verloren. Pass nur auf und trage Sorge um deinen sicheren Stand, damit du deine alte Höhe wieder erreichen kannst. Dann kannst du hoch, höher, am höchsten steigen, weit über das hinaus, was du in der Vergangenheit erreicht hast.“

Sri Chinmoy, Ein Universum von Heiligen, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
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